Stellenkommentar GT 10, KSA 1, S. 72-73 217
der „Mythus“ für N. zum vorhandenen Urbestand gehört, aber die Mythen
schon bei Homer, also Jahrhunderte vor der Entstehung der Tragödie ausgebil-
det sind, und zwar gänzlich undionysisch, sieht er sich zu einer Geschichts-
konstruktion gezwungen. Seine „Geburt“ der Tragödie, obwohl er sie mit dem
„Mythus“ eng verbindet, soll dieser Konstruktion zufolge nach der Zeit der
homerischen Mythen stattfinden, indem die „homerischen Mythen von Neuem
umgeboren“ werden. Dies wiederum ist aber nur denkbar, wenn der Mythos
nicht einen bleibenden vorlogischen Urbestand bildet, sondern einen Verfalls-
prozeß durch Historisierung und Logifizierung durchläuft und schließlich
„abstirbt“, worauf dann „diesen absterbenden Mythus“ der „neugeborne
Genius der dionysischen Musik“ (74, 19 f.) ergreifen kann und eine Neugeburt
in der aus ihr hervorgehenden Tragödie bewirkt. Diese Spekulation - ein
Absterben des Mythos nach Homer ist so wenig belegbar wie eine Neugeburt
oder sogar ein „Umgeboren“-Werden durch die Tragödie - ist durch die Zwänge
der „Geburts“-Hypothese bedingt; zugleich ist sie von der mit Wagner verbun-
denen Hoffnung auf eine „Wiedergeburt“ des Mythos als Gegenreaktion gegen
die moderne Verwissenschaftlichung (den „Sokratismus“) geleitet. Den Begriff
der „Metempsychose“, der im eigentlichen Sinn „Seelenwanderung“ bedeutet,
verwendet N. hier metaphorisch, um die Transformation der homerischen
Mythen in der Tragödie zu bezeichnen.
73,18-21 In Aeschylus erkennen wir das Bündniss des erschreckten, vor seinem
Ende bangenden Zeus mit dem Titanen. So wird das frühere Titanenzeitalter
nachträglich wieder aus dem Tartarus ans Licht geholt.] Der „Titan“ ist Prome-
theus. Im Gefesselten Prometheus des Aischylos, dem einzigen vollständig
erhaltenen Stück der Prometheus-Trilogie, prophezeit Prometheus, der auf
Zeus’ Befehl mit brutaler Gewalt an den Felsen des Kaukasus geschmiedet
wurde, weil er das Feuer vom Himmel entwendet und den Menschen gebracht
hat, daß Zeus dereinst von seinem Zorn ablassen und sich „zum Bund und zur
Freundschaft“ mit ihm, dem Prometheus, bereitfinden werde (V. 190-192). Aus
den fragmentarisch erhaltenen Resten des Dramas Der befreite Prometheus läßt
sich erschließen, daß die aus der Unterwelt, dem Tartaros, befreiten Titanen
den Chor bilden sollten, während Herakles mit einem Pfeil den Adler erlegt,
der dem gefesselten Prometheus an der Leber fraß.
73, 21-31 Die Philosophie der wilden und nackten Natur schaut die vorübertan-
zenden Mythen der homerischen Welt mit der unverhüllten Miene der Wahrheit
an: sie erbleichen, sie zittern vor dem blitzartigen Auge dieser Göttin - bis sie
die mächtige Faust des dionysischen Künstlers in den Dienst der neuen Gottheit
zwingt. Die dionysische Wahrheit übernimmt das gesammte Bereich des Mythus
als Symbolik ihrer Erkenntnisse und spricht diese theils in dem öffentlichen
der „Mythus“ für N. zum vorhandenen Urbestand gehört, aber die Mythen
schon bei Homer, also Jahrhunderte vor der Entstehung der Tragödie ausgebil-
det sind, und zwar gänzlich undionysisch, sieht er sich zu einer Geschichts-
konstruktion gezwungen. Seine „Geburt“ der Tragödie, obwohl er sie mit dem
„Mythus“ eng verbindet, soll dieser Konstruktion zufolge nach der Zeit der
homerischen Mythen stattfinden, indem die „homerischen Mythen von Neuem
umgeboren“ werden. Dies wiederum ist aber nur denkbar, wenn der Mythos
nicht einen bleibenden vorlogischen Urbestand bildet, sondern einen Verfalls-
prozeß durch Historisierung und Logifizierung durchläuft und schließlich
„abstirbt“, worauf dann „diesen absterbenden Mythus“ der „neugeborne
Genius der dionysischen Musik“ (74, 19 f.) ergreifen kann und eine Neugeburt
in der aus ihr hervorgehenden Tragödie bewirkt. Diese Spekulation - ein
Absterben des Mythos nach Homer ist so wenig belegbar wie eine Neugeburt
oder sogar ein „Umgeboren“-Werden durch die Tragödie - ist durch die Zwänge
der „Geburts“-Hypothese bedingt; zugleich ist sie von der mit Wagner verbun-
denen Hoffnung auf eine „Wiedergeburt“ des Mythos als Gegenreaktion gegen
die moderne Verwissenschaftlichung (den „Sokratismus“) geleitet. Den Begriff
der „Metempsychose“, der im eigentlichen Sinn „Seelenwanderung“ bedeutet,
verwendet N. hier metaphorisch, um die Transformation der homerischen
Mythen in der Tragödie zu bezeichnen.
73,18-21 In Aeschylus erkennen wir das Bündniss des erschreckten, vor seinem
Ende bangenden Zeus mit dem Titanen. So wird das frühere Titanenzeitalter
nachträglich wieder aus dem Tartarus ans Licht geholt.] Der „Titan“ ist Prome-
theus. Im Gefesselten Prometheus des Aischylos, dem einzigen vollständig
erhaltenen Stück der Prometheus-Trilogie, prophezeit Prometheus, der auf
Zeus’ Befehl mit brutaler Gewalt an den Felsen des Kaukasus geschmiedet
wurde, weil er das Feuer vom Himmel entwendet und den Menschen gebracht
hat, daß Zeus dereinst von seinem Zorn ablassen und sich „zum Bund und zur
Freundschaft“ mit ihm, dem Prometheus, bereitfinden werde (V. 190-192). Aus
den fragmentarisch erhaltenen Resten des Dramas Der befreite Prometheus läßt
sich erschließen, daß die aus der Unterwelt, dem Tartaros, befreiten Titanen
den Chor bilden sollten, während Herakles mit einem Pfeil den Adler erlegt,
der dem gefesselten Prometheus an der Leber fraß.
73, 21-31 Die Philosophie der wilden und nackten Natur schaut die vorübertan-
zenden Mythen der homerischen Welt mit der unverhüllten Miene der Wahrheit
an: sie erbleichen, sie zittern vor dem blitzartigen Auge dieser Göttin - bis sie
die mächtige Faust des dionysischen Künstlers in den Dienst der neuen Gottheit
zwingt. Die dionysische Wahrheit übernimmt das gesammte Bereich des Mythus
als Symbolik ihrer Erkenntnisse und spricht diese theils in dem öffentlichen