216 Die Geburt der Tragödie
Horizont der temporalen Struktur auf, welche die Gesamtkonzeption bestimmt.
Die „pessimistische Weltbetrachtung“ bezieht sich auf die gegenwärtige reale
Welt und ihre Zerrissenheit (deren mythologisches Symbol der zerstückelte
Dionysos-Zagreus ist) sowie auf die aus dem Ur-Einen hervorgegangene Viel-
heit, die als Individuation, d. h. als Heraustreten des vielen Einzelnen aus
der ursprünglichen Ganzheit gedacht wird. Dagegen richtet sich die dreimal
exponierte „Hoffnung“ (72, 25; 72, 29; 73, 6) auf eine Zukunft, „die wir jetzt als
Ende der Individuation ahnungsvoll zu begreifen haben“ (72, 26 f.): als die
„Ahnung einer wiederhergestellten Einheit“ (73, 7). In solcher „Hoffnung“ und
„Ahnung“ erhält die Tragödie insofern eine wesentliche Funktion, als sie im
Untergang der tragischen Helden, die als große Individuen und damit als vor-
nehmste Repräsentanten des Stadiums der Individuation untergehen, die Auf-
hebung der Individuation überhaupt signalisiert. In einem nachgelassenen
Notat, das im Winter 1870-71 entstand, heißt es: „Die Vernichtung des Indivi-
duums als Einblick in die Vernichtung der Individuation, höchste Lust-
spiegelung“ (NL 1870/1871/1872, KSA 7, 8[2], 219, 15-16). Vgl. NK 58, 33-59,
7 und NK 108, 17-22. So weist die aus der tragischen Katastrophe zunächst
entstehende „Trauer“ letztlich auf die „Freude“ (72, 30; 72, 33; 73, 5) einer
zukünftig „wiederhergestellten Einheit“. N. nimmt damit eine Denkfigur aus
der Zeit des Deutschen Idealismus und der Frühromantik auf. Er, der selber in
der Nachfolge Hölderlins ein Empedokles-Drama plante, zu dem gleichzeitig
mit GT entstandene Entwürfe erhalten sind, kannte Hölderlins Konzeption,
derzufolge sich Empedokles in den Ätna stürzte, um das Leiden des individuel-
len Daseins in der All-Natur, d. h. in der „wiederhergestellten Einheit“ aufzuhe-
ben. Direkt spielt N. mit seiner Verbindung von „Trauer“ und „Freude“ (72,
30 f.) in der so verstandenen Tragödie auf Hölderlins Epigramm Sophokles an:
Viele versuchten umsonst das Freudigste freudig zu sagen
Hier spricht endlich es mir, hier in der Trauer sich aus.
Dieses Epigramm Hölderlins fand N. auch in dem von ihm während der Arbeit
an GT intensiv benutzten Werk von Julius Leopold Klein: Geschichte des
Drama’s (1865), Bd. 1, S. 307.
73, 8-15 Es ist früher angedeutet worden, dass das homerische Epos die Dich-
tung der olympischen Cultur ist, mit der sie ihr eignes Siegeslied über die Schre-
cken des Titanenkampfes gesungen hat. Jetzt, unter dem übermächtigen Ein-
flüsse der tragischen Dichtung, werden die homerischen Mythen von Neuem
umgeboren und zeigen in dieser Metempsychose, dass inzwischen auch die olym-
pische Cultur von einer noch tieferen Weltbetrachtung besiegt worden ist] Von
hier an bis zum Ende dieses Kapitels wird der „Mythus“ zum Hauptthema. Da
Horizont der temporalen Struktur auf, welche die Gesamtkonzeption bestimmt.
Die „pessimistische Weltbetrachtung“ bezieht sich auf die gegenwärtige reale
Welt und ihre Zerrissenheit (deren mythologisches Symbol der zerstückelte
Dionysos-Zagreus ist) sowie auf die aus dem Ur-Einen hervorgegangene Viel-
heit, die als Individuation, d. h. als Heraustreten des vielen Einzelnen aus
der ursprünglichen Ganzheit gedacht wird. Dagegen richtet sich die dreimal
exponierte „Hoffnung“ (72, 25; 72, 29; 73, 6) auf eine Zukunft, „die wir jetzt als
Ende der Individuation ahnungsvoll zu begreifen haben“ (72, 26 f.): als die
„Ahnung einer wiederhergestellten Einheit“ (73, 7). In solcher „Hoffnung“ und
„Ahnung“ erhält die Tragödie insofern eine wesentliche Funktion, als sie im
Untergang der tragischen Helden, die als große Individuen und damit als vor-
nehmste Repräsentanten des Stadiums der Individuation untergehen, die Auf-
hebung der Individuation überhaupt signalisiert. In einem nachgelassenen
Notat, das im Winter 1870-71 entstand, heißt es: „Die Vernichtung des Indivi-
duums als Einblick in die Vernichtung der Individuation, höchste Lust-
spiegelung“ (NL 1870/1871/1872, KSA 7, 8[2], 219, 15-16). Vgl. NK 58, 33-59,
7 und NK 108, 17-22. So weist die aus der tragischen Katastrophe zunächst
entstehende „Trauer“ letztlich auf die „Freude“ (72, 30; 72, 33; 73, 5) einer
zukünftig „wiederhergestellten Einheit“. N. nimmt damit eine Denkfigur aus
der Zeit des Deutschen Idealismus und der Frühromantik auf. Er, der selber in
der Nachfolge Hölderlins ein Empedokles-Drama plante, zu dem gleichzeitig
mit GT entstandene Entwürfe erhalten sind, kannte Hölderlins Konzeption,
derzufolge sich Empedokles in den Ätna stürzte, um das Leiden des individuel-
len Daseins in der All-Natur, d. h. in der „wiederhergestellten Einheit“ aufzuhe-
ben. Direkt spielt N. mit seiner Verbindung von „Trauer“ und „Freude“ (72,
30 f.) in der so verstandenen Tragödie auf Hölderlins Epigramm Sophokles an:
Viele versuchten umsonst das Freudigste freudig zu sagen
Hier spricht endlich es mir, hier in der Trauer sich aus.
Dieses Epigramm Hölderlins fand N. auch in dem von ihm während der Arbeit
an GT intensiv benutzten Werk von Julius Leopold Klein: Geschichte des
Drama’s (1865), Bd. 1, S. 307.
73, 8-15 Es ist früher angedeutet worden, dass das homerische Epos die Dich-
tung der olympischen Cultur ist, mit der sie ihr eignes Siegeslied über die Schre-
cken des Titanenkampfes gesungen hat. Jetzt, unter dem übermächtigen Ein-
flüsse der tragischen Dichtung, werden die homerischen Mythen von Neuem
umgeboren und zeigen in dieser Metempsychose, dass inzwischen auch die olym-
pische Cultur von einer noch tieferen Weltbetrachtung besiegt worden ist] Von
hier an bis zum Ende dieses Kapitels wird der „Mythus“ zum Hauptthema. Da