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Stellenkommentar GT 10, KSA 1, S. 73-74 219

heraklesmässige Kraft der Musik] Zur Verbindung des Prometheus-Mythos mit
Herakles vgl. die Erläuterung zu 73, 18-21.
74, 1 mit neuer tiefsinnigster Bedeutsamkeit] In diesem Superlativ gipfelt N.s
Vorliebe, die von Schopenhauer übernommene Weltanschauung als „tief“ und
„tiefsinnig“ zu preisen; vgl. schon im näheren Kontext die Rede von den
„Bestandtheile[n] einer tiefsinnigen und pessimistischen Weltbetrachtung“
(73,1 f.), und die Bemerkung, daß „die olympische Cultur von einer noch tieferen
Weltbetrachtung besiegt worden ist“ (73, 13-15); vgl. ferner die Behauptung:
„Durch die Tragödie kommt der Mythus zu seinem tiefsten Inhalt“ (74, 26 f.).
Später, in der Schrift Jenseits von Gut und Böse distanzierte sich N. von der
deutschen Unart, der er selbst noch in GT frönte: überall das „Tiefe“ zu kulti-
vieren (JGB 244, KSA 5, 184, 2-185, 21):
Es gab eine Zeit, wo man gewohnt war, die Deutschen mit Auszeichnung ,tief‘ zu nennen:
jetzt, wo der erfolgreichste Typus des neuen Deutschthums nach ganz andern Ehren geizt
und an Allem, was Tiefe hat, vielleicht die ,Schneidigkeit‘ vermisst, ist der Zweifel bei-
nahe zeitgemäss und patriotisch, ob man sich ehemals mit jenem Lobe nicht betrogen
hat: genug, ob die deutsche Tiefe nicht im Grunde etwas Anderes und Schlimmeres ist -
und Etwas, das man, Gott sei Dank, mit Erfolg loszuwerden im Begriff steht. Machen wir
also den Versuch, über die deutsche Tiefe umzulernen: man hat Nichts dazu nöthig, als
ein wenig Vivisektion der deutschen Seele. [...] wie jeglich Ding sein Gleichniss liebt, so
liebt der Deutsche die Wolken und Alles, was unklar, werdend, dämmernd, feucht und
verhängt ist: das Ungewisse, Unausgestaltete, Sich-Verschiebende, Wachsende jeder Art
fühlt er als ,tief‘.
74, 3-7 Denn es ist das Loos jedes Mythus, allmählich in die Enge einer angeb-
lich historischen Wirklichkeit hineinzukriechen und von irgend einer späteren Zeit
als einmaliges Factum mit historischen Ansprüchen behandelt zu werden] Hier
und im Folgenden wendet sich N. nicht nur gegen den in der griechischen
Antike ausgebildeten Euhemerismus, d. h. gegen die Zurückführung von
Mythen auf Historisches, sondern auch gegen die moderne historisierende
Mythen- und Religionsdeutung. Im Bereich der Mythologie ist dafür das in
der Goethezeit vielbenutzte Gründliche mythologische Lexicon von Benjamin
Hederich ein markantes Beispiel. Die Lebensfeindlichkeit der historisierenden
Bildungskultur überhaupt hebt N. in seiner zweiten Unzeitgemäßen Betrach-
tung hervor: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben.
74,17-31 wenn also das Gefühl für den Mythus abstirbt [...] Diesen absterben-
den Mythus [...] Durch die Tragödie kommt der Mythus zu seinem tiefsten Inhalt,
seiner ausdrucksvollsten Form; noch einmal erhebt er sich, wie ein verwundeter
Held, und der ganze Ueberschuss von Kraft, sammt der weisheitsvollen Ruhe des
Sterbenden, brennt in seinem Auge mit letztem, mächtigem Leuchten.] Hier
 
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