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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0368
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Stellenkommentar GT 19, KSA 1, S. 120-122 347

erwähnte, geht Wagner auf das „Rezitativ“ in der Entwicklung der italieni-
schen Oper genauer ein: „Als die Form der Musik haben wir zweifellos die
Melodie zu verstehen; die besondere Ausbildung dieser erfüllt die
Geschichte unserer Musik, wie ihr Bedürfniß die Ausbildung des von den Italie-
nern versuchten lyrischen Drama’s zur ,Oper‘ entschied. Sollte hierbei
zunächst die Form der griechischen Tragödie nachgebildet werden, so schien
diese auf den ersten Blick sich in zwei Haupttheile zu zersetzen, in den Chorge-
sang und in die periodisch zur Melopöe [sic] sich steigernde dramatische Rezi-
tation: das eigentliche ,Drama4 war somit dem Rezitativ übergeben, dessen
erdrückende Monotonie zuletzt durch die akademisch approbirte Erfindung der
,Arie‘ gebrochen werden sollte. In dieser gelangte hierbei die Musik einzig zu
ihrer selbständigen Form als Melodie, und sie gewann deßhalb sehr richtig
einen solchen Vorrang vor den übrigen Faktoren des musikalischen Drama’s,
daß dieses selbst endlich, nur noch als Vorwand gebraucht, zum trockenen
Gerüste für die Ausstellung der Arie herabsank“ (GSD IX, 146 f.). Indem N.
von „einer im Wesen des Recitativs mitwirkenden äusser künstlerischen
Tendenz“ spricht, gibt er ein Echo auf diese Bewertung des Rezitativs durch
Wagner und darüberhinaus noch auf die in derselben Schrift Über die Bestim-
mung der Oper formulierte Kritik an der „Tendenz“ sowohl in der Literatur wie
in der Musik. Unter „Tendenz“ versteht Wagner die sich vom künstlerischen
Gesamteindruck ablösende „didaktische Tendenz“; es gehe nicht an, „der
nackten Tendenz das lebenvolle Drama selbst aufzuopfern“. Eine solche „Ten-
denz“ präge sich in der Vorliebe für die „Sentenz“ aus, wie Wagner sogar mit
Goethe- und Schiller-Zitaten zu belegen versucht (GSD IX, 138 f.).
In seine Tragödienvorlesung vom Sommer 1870 integrierte N. ein eigenes
Kurzkapitel mit der Überschrift Nachahmungen der antiken Tragödie. Die antike
Tragödie und die Oper. Darin geht er genauer auf die Entstehung der italieni-
schen Oper bei den einzelnen Komponisten und auf ihre Entwicklung ein,
bevor er mit einem Ausblick auf Gluck schließt: KGW II 3, 30-33.
121, 29 Conglutination] Zusammenballung.
122, 1 Orpheus, Amphion] Orpheus, der mythische Urmusiker und Urdichter,
weiß durch die Macht seines Gesanges und Saitenspiels Menschen, Tiere und
sogar die unbelebte Natur zu bezaubern. Die Geschichte von Orpheus und
Eurydike war ein Hauptsujet schon in der frühen Oper, so in Monteverdis
Orfeo, und dann noch über Jahrhunderte hinweg bis zu Glucks Orpheus und
Eurydike. Amphion, ein anderer sagenhafter Musiker der Urzeit, soll die Leier
so wirkungsmächtig gespielt haben, daß er sogar Steine in Bewegung setzen
konnte und sie in eine harmonische Ordnung zu bringen wußte: So habe der
Klang seines Saiteninstruments die Steine zur Mauer von Theben zusammenge-
führt. Vgl. Horaz: De arte poetica, V. 394.
 
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