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348 Die Geburt der Tragödie

122, 8-13 die Dichter in ihren Schäferspielen [...] die Sehnsucht zum Idyll]
Schäferspiele waren eine beliebte poetische Gattung der Renaissance. Sie
inszenierten ein natürliches, einfaches Leben und erfüllten mit ihrer Idyllik
eine kompensatorische Funktion in der sonst von Ritualen und Entfremdungs-
zwängen geprägten höfischen Kultur.
122, 32-123, 4 in der Auffassung des Urmenschen als des von Natur guten
und künstlerischen Menschen: welches Princip der Oper sich allmählich in eine
drohende und entsetzliche Forderung umgewandelt hat, die wir, im Angesicht
der socialistischen Bewegungen der Gegenwart, nicht mehr überhören können.
Der „gute Urmensch“ will seine Rechte: welche paradiesischen Aussichten!] Die
aberrante Herstellung eines Zusammenhangs zwischen der frühen Oper und
den sozialistischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts ist von einem Angriff auf
Rousseau mitbestimmt, dessen Gesellschafts- und Zivilisationskritik stark auf
die Französische Revolution wirkte. Rousseau hatte in seinem Discours sur
l’inegalite den „homme naturel“ gepriesen. Der aktuelle historische Hinter-
grund ist der Pariser Commune-Aufstand kurz nach Kriegsende. Am 21. Mai
1871 zogen französische Regierungstruppen (Adolphe Thiers stand als „Chef
du pouvoir executif“ an der Spitze der in Versailles residierenden Regierung
der Dritten Republik) in Paris ein, um den Aufstand niederzuschlagen. Darauf-
hin ließen die Anführer der Commune ihre Geiseln erschießen und steckten
öffentliche Gebäude in Brand. Die Zeitungen meldeten irrtümlich, bei dem
Brand der Tuilerien am 24. Mai 1871 sei auch der Louvre mit seinen Kunstschät-
zen niedergebrannt. Vor diesem historischen Hintergrund schrieb N. am
21. Juni 1871 in einem Brief an den Freund Carl von Gersdorff:
Über den Kampf der Nationen hinaus hat uns jener internationale Hydrakopf erschreckt,
der plötzlich so furchtbar zum Vorschein kam, als Anzeiger ganz anderer Zukunftskämpfe.
Wenn wir uns einmal persönlich aussprechen könnten, so würden wir Übereinkommen,
wie gerade in jener Erscheinung unser modernes Leben, ja eigentlich das ganze alte
christliche Europa und sein Staat, vor allem aber die jetzt überall herrschende romanische
.(Zivilisation“ den ungeheuren Schaden verräth, der unserer Welt anhaftet: wie wir Alle,
mit aller unserer Vergangenheit, schuld sind an solchen zu Tage tretenden Schrecken:
so daß wir ferne davon sein müssen, mit hohem Selbstgefühl das Verbrechen eines Kamp-
fes gegen die Cultur nur jenen Unglücklichen zu imputiren. Ich weiß, was es sagen will:
der Kampf gegen die Cultur. Als ich von dem Pariser Brande vernahm, so war ich für
einige Tage völlig vernichtet und aufgelöst in Thränen und Zweifeln: die ganze wissen-
schaftliche und philosophisch-künstlerische Existenz erschien mir als eine Absurdität,
wenn ein einzelner Tag die herrlichsten Kunstwerke, ja ganze Perioden der Kunst austil-
gen konnte; ich klammerte mich mit ernster Überzeugung an den metaphysischen Werth
der Kunst, die der armen Menschen wegen nicht da sein kann, sondern höhere Missionen
zu erfüllen hat. Aber auch bei meinem höchsten Schmerz war ich nicht im Stande, einen
Stein auf jene Frevler zu werfen, die mir nur Träger einer allgemeinen Schuld waren, über
die viel zu denken ist! - (KSB 3, Nr. 140, S. 203, Z. 20 u. S. 204, Z. 44).
 
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