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346 Die Geburt der Tragödie

gelehrt gebildeten Florentiner, die im Anfänge des 17L Jahrhunderts die Entste-
hung der Oper veranlaßten, hatten die deutlich ausgesprochne Absicht, die
Wirkungen der Musik zu erneuern, die sie im Alterthume, nach so vielen bered-
ten Zeugnissen, gehabt habe. Merkwürdig! Schon der erste Gedanke an die
Oper war ein Haschen nach Effekt. Durch solche Experimente werden die Wur-
zeln einer unbewußten, aus dem Volksleben herauswachsenden Kunst abge-
schnitten oder mindestens arg verstümmelt. So wurde in Frankreich das volks-
thümliche Drama durch die sogenannte klassische Tragödie verdrängt, also
durch eine rein auf gelehrtem Wege entstandene Gattung, die die Quintessenz
des Tragischen, ohne alle Beimischungen, enthalten sollte. Auch in Deutsch-
land ist die natürliche Wurzel des Drama’s das Fastnachtspiel, seit der Refor-
mation untergraben worden; seitdem wurde die Neuschöpfung einer nationa-
len Form kaum wieder versucht, dagegen nach den vorhandenen Mustern
fremder Nationen gedacht und gedichtet. Für die Entwicklung der modernen
Künste ist die Gelehrsamkeit, das bewußte Wissen und Vielwissen der eigentli-
che Hemmschuh: alles Wachsen und Werden im Reiche der Kunst muß in tiefer
Nacht vor sich gehen“ (KSA 1, 516, 6-31).
Wagner bestimmt das Verhältnis von Musik und Wort anders (Oper und
Drama, GSD III, 231 f.): „an den üppigen Höfen Italiens [...] fiel es vornehmen
Leuten, die an Palestrina’s Kirchenmusik keinen Geschmack mehr fanden, ein
sich von Sängern, die bei Festen sie unterhalten sollten, Arien, d. h. ihrer
Wahrheit und Naivetät entkleidete Volksweisen, vorsingen zu lassen, denen
man willkürliche, und aus Noth zu einem Anscheine von dramatischem
Zusammenhang verbundene, Verstexte unterlegte. Diese dramatische
Kantate, deren Inhalt auf Alles, nur nicht auf das Drama, abzielte, ist die
Mutter unserer Oper, ja sie ist die Oper selbst“. Im Gegensatz zu Wagner, der
die dichterische Wortkunst und infolgedessen das genuine Drama nicht als
äußerliche Zutat, sondern als eine wesentliche Grundlage der „Tonkunst“ der
Oper forderte, versucht N. „Wort“ und dramatische Handlung gegenüber dem
Totalanspruch „dionysischer“ Musik abzuwerten. Allerdings stimmt er mit
Wagners entschiedener Abwertung der frühen italienischen Oper überein, ins-
besondere im Hinblick auf die Vorstellung, mit ihr könne die antike Tragödie
wiederhergestellt werden. Wagner konstatierte: „Die italienische Oper ist das,
allerdings sonderbar ausgeschlagene Produkt einer akademischen Grille“. Man
habe geglaubt, „so würde man sich auf dem richtigen Wege auch zur Wieder-
herstellung der antiken Tragödie befinden, sobald man nämlich zugleich dafür
sorge, daß Chorgesänge und Ballettänze zur gehörigen Unterbrechung [der
„theatralischen Aktion“] einträten“ (Richard Wagner, Über Schauspieler und
Sänger, GSD IX, 202).
In seiner kurzen Abhandlung Über die Bestimmung der Oper (1871), die
wenige Monate vor GT erschien und die N. alsbald in mehreren Briefen
 
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