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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0037
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Überblickskommentar, Kapitel 1.1: Motivation und Entstehung 11

rischer Devotion: „Verehrtester Meister / ich lebe in fortwährendem Angeden-
ken an die Bayreuther Tage dahin, und das viele in kürzester Zeit neu Gelernte
und Erfahrene breitet sich in immer grösserer Fülle vor mir aus. Wenn Sie nicht
zufrieden mit mir bei meiner Anwesenheit schienen, so begreife ich es nur zu
gut, ohne etwas daran ändern zu können, denn ich lerne und percipire sehr
langsam [...]. Ich wünschte mir so oft wenigstens den Anschein einer grösseren
Freiheit und Selbständigkeit, aber vergebens. Genug, ich bitte Sie, nehmen Sie
mich nur als Schüler [...] mit einem sehr langsamen und gar nicht versatilen
Ingenium. Es ist wahr, ich werde täglich melancholischer, wenn ich so recht
fühle, wie gern ich Ihnen irgendwie helfen, nützen möchte und wie ganz und
gar unfähig ich dazu bin, so dass ich nicht einmal etwas zu Ihrer Zerstreuung
und Erheiterung beitragen kann. / Oder vielleicht doch einmal, wenn ich das
ausgeführt habe, was ich jetzt unter den Händen habe, nämlich ein Schrift-
stück gegen den berühmten Schriftsteller David Strauss“, das dessen
„Stumpfheit und Gemeinheit“ durch „Stilproben“ demonstrieren soll (KSB 4,
Nr. 304, S. 144-145).
Noch viel deutlicher als in diesem Brief vom 18. April signalisiert N. seine
wachsende Distanz zu Wagner schon am 2. März 1873, wenn er Carl von Gers-
dorff sogar schwelende Konflikte mit dem Komponisten gesteht und von der
für ihn selbst „nothwendigen beinahe ,sanitarisch‘ zu nennenden Enthaltung
von häufigerem persönlichen Zusammenleben“ mit ihm spricht (KSB4,
Nr. 298, S. 131). Die sich bereits anbahnende Krise der Freundschaft versuchte
N. zunächst aber noch durch kompensatorische Anbiederung und mit Briefan-
reden wie „Verehrtester Meister“ (KSB 4, Nr. 304, S. 144, Nr. 305,146) oder „Ge-
liebter Meister“ (KSB 4, Nr. 309, S. 153) zu überwinden. - Die achtjährige
freundschaftliche Verbindung N.s mit Richard Wagner, die vom Kennenlernen
am 8. November 1868 bis zum letzten Treffen im Spätherbst 1876 reichte, hatte
mit einem Wagner-Kult begonnen (vgl. KSB 3, Nr. 8, S. 17), der sich bis zur
Apotheose steigerte (vgl. KSB 3, Nr. 22, S. 42). N. sah in Wagner nicht nur ein
paradigmatisches „Genie“ im Sinne Schopenhauers (vgl. KSB 2, Nr. 604,
S. 352), vielmehr erschien er ihm auch als „unzeitgemäß im schönsten Sinne“
(KSB 3, Nr. 22, S. 42) und als einer „der idealsten Menschen“ überhaupt (KSB 3,
Nr. 16, S. 31; analog: KSB 3, Nr. 20, S. 37 und KSB 3, Nr. 81, S. 125). Hatte N.
Wagner am 25. August 1869 brieflich noch als „den größten Genius und
größten Menschen dieser Zeit“ bewundert (KSB 3, Nr. 24, S. 46), so wich
sein anfänglicher Enthusiasmus (vgl. KSB 3, Nr. 6, S. 13) schon in der Entste-
hungszeit von UB I DS unaufhaltsam einer Skepsis, die im Spätwerk dann in
scharfe Polemik gegen Wagners Tendenz zum „Demagogische[n]“ und Tyran-
nischen (NL 1885, 41 [2], KSA 11, 675) sowie gegen seinen Hang zu einer schau-
spielerhaften Selbstinszenierung mündete. In Der Fall Wagner wird N. dann
 
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