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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0066
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40 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

Darüber hinaus wirft dieser anonyme Rezensent N. Ignoranz im Hinblick
auf die Theorien Darwins vor und empfiehlt ihm dringend eine „Erweiterung
seiner Naturkenntnisse“, weil er die verschiedenen „Faktoren im Kampf ums
Dasein“ offenbar „nicht einmal vom Hörensagen“ kenne (ebd., 289). Mit dieser
Polemik stellt er auch N.s Kritik in Frage, Strauß fehle eine „ernst durchführte
Darwinistische Ethik“ (ebd., 289). Vgl. dazu NK195, 4. - In Parenthese emp-
fiehlt der Anonymus anschließend ein Buch zum Thema, nennt dessen Titel
allerdings nur unvollständig: „Das Unbewusste vom Standpunkt der Physiolo-
gie und Deszendenztheorie“ (ebd., 289). Durch bibliographische Recherche
lässt sich die Titelangabe komplettieren: [Eduard von Hartmann:] Das Unbe-
wusste vom Standpunkt der Physiologie und Descendenztheorie. Eine kritische
Beleuchtung des naturphilosophischen Theils der Philosophie des Unbewussten
aus naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten (1872). Diese Schrift publizierte
Eduard von Hartmann zunächst anonym als schmalere Ergänzung zu seinem
damals bereits bekannten Werk Philosophie des Unbewußten: Versuch einer
Weltanschauung. Speculative Resultate nach inductiv-naturwissenschaftlicher
Methode (1869), das N. im 9. Kapitel von UB II HL kritisiert (vgl. KSA 1, 311-
324).
Karl Hillebrand rezipierte UB I DS mit deutlichen Ambivalenzen, wie sei-
ne Rezension Nietzsche gegen Strauß zu erkennen gibt, die er am 22./23.9.1873
in der „Allgemeinen Zeitung“ (Augsburg) veröffentlichte (erneut abgedruckt in
Hauke Reich 2013, 292-302). Zwar bewertet Hillebrand den polemischen Gestus
N.s hier insgesamt erheblich positiver als Gottfried Keller, Emil Kuh und andere
Kritiker, indem er erklärt: „Schlag fällt auf Schlag; Ironie, ja Hohn; bald fein,
bald derb, stets ungezwungen, führen gern das Wort. Doch so heftig der Ton,
er ist nicht gereizt, und selten artet der Zorn in Rohheit, der Spott in Ge-
schmacklosigkeit aus“ (ebd., 293). Im Zusammenhang mit seinen eigenen
sprach- und kulturkritischen Einschätzungen begrüßt Hillebrand N.s „geistrei-
che Schrift“ sogar „als das erste Anzeichen einer Rückkehr zum deutschen Ide-
alismus, wie ihn unsere Großeltern angestrebt, einer Reaction gegen die platte
positivistische Auffassungsweise [...], als ein kühnes Wiederaufpflanzen des
alten guten Banners deutscher Humanität gegen die Beschränkung nationaler
Selbstbewunderung, als einen Mahnruf über unseren materiellen Erfolgen
nicht unsere geistigen Pflichten zu vergessen und, wie die Gründer unserer
Cultur, es uns angelegen sein zu lassen der Nation, bei aller Geistesfreiheit,
das religiöse Gefühl und den speculativen Sinn zu bewahren, ihr, ohne sie der
Convention gefangen zu geben, schönere Formen des Lebens zu schaffen“
(ebd., 293). Zustimmend äußert sich Hillebrand auch zu N.s Angriffen auf
sprachliche Defizite bei Strauß speziell (vgl. ebd., 294) sowie auf den „Typus
des selbstgefälligen deutschen Philisterthums“ generell (vgl. ebd., 296). Aller-
 
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