Überblickskommentar, Kapitel 1.5: Rezeption 39
sehe Details der Geburt der Tragödie wirft (ebd., 439-442). Am Ende der
sprachkritischen Textpassage zieht Kuh sein Fazit und attestiert N. eine „vorbe-
dachte Böswilligkeit. Denn wie könnte ein redlicher Kritiker den aus lauter
Licenzen, Verrenkungen und Verkrümmungen zusammengesetzten Librettostyl
Richard Wagner’s bewundern und preisen und auf der anderen Seite die Prosa
Straußens als eine grauenerregende Mißgestalt ansehen und brandmarken!?“
(ebd., 443).
In einem Brief an Gottfried Keller formuliert Emil Kuh am 27. November
1873 sein Verdikt über N. so: „[...] Herr Nietzsche ist Schopenhauern nicht als
Jünger4 gefolgt, er hat ihn vielmehr schamlos ausgeschrieben und des Philoso-
phen hin und wieder unhaltbaren Strafkodex in betreff der deutschen Sprache
auf den Stil Straußens angewendet. Apergus über die Unterschiede zwischen
Kultur und Bildung hat er ohne Angabe der Quelle einem Aufsatz des Schwei-
zers Rochholz entlehnt. Mit einem Wort ein Lump“ (Schmidt/Streitfeld 1988,
80-81). Analoge Vorwürfe gegen N. erhebt Emil Kuh, der Gottfried Keller schon
am 14. November 1873 brieflich versichert hatte, er sei „kein Bewunderer des
,Alten und des neuen Glaubens4“ (ebd., 74), übrigens auch in seiner polemi-
schen Studie (vgl. den Wiederabdruck in Hauke Reich 2013, 422-452, vgl. ebd.,
430). Hier konstatiert Kuh ausdrücklich, Strauß’ ANG sei „keines der besten
Bücher des berühmten Verfassers“ (ebd., 432).
Gleichfalls vernichtend fiel die anonyme Rezension David Strauss und sein
neuester Kritiker aus (in: Schweizer Grenzpost und Tagblatt der Stadt Basel,
15./16.9. 1873), die in Hauke Reichs Dokumentation unter der Sigle § verzeich-
net ist (zitiert nach Hauke Reich 2013, 286-292). In dieser Besprechung von
UBI DS wird Folgendes beanstandet: „die ganze silbenstecherische Splitter-
richterei dient überhaupt mehr als willkommene Waffe“ N.s, um Strauß wegen
seiner Vorbehalte gegen Schopenhauers Pessimismus zu attackieren, „als ur-
sprüngliche Beweggründe bleiben nur philosophische und musikalische Mei-
nungsverschiedenheiten“, die keineswegs rechtfertigen, „weich’ volle Schale
des Zorns über Strauss ausgegossen wird“; diese erklärt sich der Anonymus
„durch die mehr als gewöhnliche Menge von unduldsamem Selbstgefühl“, die
in N.s Schrift „überall zu Tage tritt“ (ebd., 287). Mit Nachdruck kritisiert er
zugleich die unseriösen Strategien in der Polemik N.s, der sich „in so maßlo-
sem Selbstgefühl, in so hohler Emphase, in so unwürdiger Herabsetzung des
Gegners, in solcher Häufung von Schimpfwörtern“ expektoriere (ebd., 291).
Überall sieht der Rezensent in UB I DS „die Worte von Strauß ins Gemeine um-
gedeutet, seine Redewendungen in’s Geschmacklose ausgelegt, wo das Aus-
und Unterlegen im Stich läßt“ (ebd., 288). Anlässlich von UB I DS vertritt er
generell die These: „Unredliche Mittel und ernstes Pathos vertragen sich nicht
mit einander und wo wir erstere mit Händen greifen können, hören wir auf an
das letztere zu glauben“ (ebd., 288).
sehe Details der Geburt der Tragödie wirft (ebd., 439-442). Am Ende der
sprachkritischen Textpassage zieht Kuh sein Fazit und attestiert N. eine „vorbe-
dachte Böswilligkeit. Denn wie könnte ein redlicher Kritiker den aus lauter
Licenzen, Verrenkungen und Verkrümmungen zusammengesetzten Librettostyl
Richard Wagner’s bewundern und preisen und auf der anderen Seite die Prosa
Straußens als eine grauenerregende Mißgestalt ansehen und brandmarken!?“
(ebd., 443).
In einem Brief an Gottfried Keller formuliert Emil Kuh am 27. November
1873 sein Verdikt über N. so: „[...] Herr Nietzsche ist Schopenhauern nicht als
Jünger4 gefolgt, er hat ihn vielmehr schamlos ausgeschrieben und des Philoso-
phen hin und wieder unhaltbaren Strafkodex in betreff der deutschen Sprache
auf den Stil Straußens angewendet. Apergus über die Unterschiede zwischen
Kultur und Bildung hat er ohne Angabe der Quelle einem Aufsatz des Schwei-
zers Rochholz entlehnt. Mit einem Wort ein Lump“ (Schmidt/Streitfeld 1988,
80-81). Analoge Vorwürfe gegen N. erhebt Emil Kuh, der Gottfried Keller schon
am 14. November 1873 brieflich versichert hatte, er sei „kein Bewunderer des
,Alten und des neuen Glaubens4“ (ebd., 74), übrigens auch in seiner polemi-
schen Studie (vgl. den Wiederabdruck in Hauke Reich 2013, 422-452, vgl. ebd.,
430). Hier konstatiert Kuh ausdrücklich, Strauß’ ANG sei „keines der besten
Bücher des berühmten Verfassers“ (ebd., 432).
Gleichfalls vernichtend fiel die anonyme Rezension David Strauss und sein
neuester Kritiker aus (in: Schweizer Grenzpost und Tagblatt der Stadt Basel,
15./16.9. 1873), die in Hauke Reichs Dokumentation unter der Sigle § verzeich-
net ist (zitiert nach Hauke Reich 2013, 286-292). In dieser Besprechung von
UBI DS wird Folgendes beanstandet: „die ganze silbenstecherische Splitter-
richterei dient überhaupt mehr als willkommene Waffe“ N.s, um Strauß wegen
seiner Vorbehalte gegen Schopenhauers Pessimismus zu attackieren, „als ur-
sprüngliche Beweggründe bleiben nur philosophische und musikalische Mei-
nungsverschiedenheiten“, die keineswegs rechtfertigen, „weich’ volle Schale
des Zorns über Strauss ausgegossen wird“; diese erklärt sich der Anonymus
„durch die mehr als gewöhnliche Menge von unduldsamem Selbstgefühl“, die
in N.s Schrift „überall zu Tage tritt“ (ebd., 287). Mit Nachdruck kritisiert er
zugleich die unseriösen Strategien in der Polemik N.s, der sich „in so maßlo-
sem Selbstgefühl, in so hohler Emphase, in so unwürdiger Herabsetzung des
Gegners, in solcher Häufung von Schimpfwörtern“ expektoriere (ebd., 291).
Überall sieht der Rezensent in UB I DS „die Worte von Strauß ins Gemeine um-
gedeutet, seine Redewendungen in’s Geschmacklose ausgelegt, wo das Aus-
und Unterlegen im Stich läßt“ (ebd., 288). Anlässlich von UB I DS vertritt er
generell die These: „Unredliche Mittel und ernstes Pathos vertragen sich nicht
mit einander und wo wir erstere mit Händen greifen können, hören wir auf an
das letztere zu glauben“ (ebd., 288).