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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,2): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0098
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72 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

zugekehrt: das ,Deutsche4 als erlösende Kraft!“ (NL 1872-1873,19 [36], KSA 7,
429).
Seine Vorbehalte gegen die „öffentliche Meinung“ konkretisiert N. im Früh-
werk durch zahlreiche Attacken auf die Journalisten4, die ,Zeitungsschreiberei4
und die ,Presse4. Schon in der Geburt der Tragödie polemisiert N. gegen die
Journalisten als bloße Exponenten des Zeitgemäßen und diagnostiziert die
problematische Situation der „Gegenwart“, in welcher der „Journalist4, der pa-
pierne Sclave des Tages“, die Oberhand gewinne (KSA 1, 130, 19-20), weil er
sogar über mehr Einfluss auf die Bildung verfüge als die „höheren Lehranstal-
ten“ (KSA 1,130,18) und auf diese Weise auch die „öffentliche Meinung“ maß-
geblich bestimmen kann. - Als Indiz für einen solchen Missstand betrachtet
N. in UBI DS den großen „Erfolg“ der Schrift Der alte und der neue Glaube.
Ein Bekenntniß [= ANG] von David Friedrich Strauß. In einem Entwurf zum
ursprünglich geplanten Vorwort nimmt N. Anstoß daran, dass „ein so unbe-
deutendes Buch zu einem so skandalösen Erfolge komme“, indem es „in Jah-
resfrist sechs starke Auflagen erlebt“ habe (NL 1873, TI [78], KSA 7, 610).
Zwar geht N. im Hinblick auf die theologischen Ausführungen nicht ohne
weiteres davon aus, „dass das Straussische Bekenntnissbuch bei der öffentli-
chen Meinung gesiegt habe“ (206, 26-28), aber im Hinblick auf die schriftstelle-
rische Leistung „ertönt es wie aus dem Munde Einer Gemeinde: ein klas-
sischer Schriftsteller bleibt er doch!“ (207, 16-18). Um gegen diese
„öffentliche Meinung“ anzugehen, statuiert N. an Strauß ein Exempel und
stellt den paradigmatischen Fall zugleich in einen größeren Kontext kulturkri-
tischer Diagnosen, die er mit einer an Schopenhauer orientierten Kritik am
Journalismus verbindet. Mit seiner Polemik gegen die Zeitungssprache schließt
N. auch an Überzeugungen Richard Wagners an, der sich - ähnlich wie Scho-
penhauer - ebenfalls gegen die Depravation literarischer Texte durch journa-
listische Diktion wendet (vgl. Pestalozzi 1988, 104). - Im Zusammenhang mit
seiner Kritik am Monopol der „öffentlichen Meinung“ propagiert N. einen hö-
heren Anspruch an „Kultur“ und „Bildung“, als ihn Bildungsphilister und Jour-
nalisten verwirklichen. Entschieden grenzt er sich ab von „dem unvergleich-
lich zuversichtlichen Benehmen der deutschen Zeitungsschreiber und Roman-
Tragödien- Lied- und Historienfabrikanten“, dem er in der zeitgenössischen
Kultur die Funktion zuspricht, „durch gedrucktes Papier zu betäuben“ (161,
16-22). Zum Spannungsverhältnis zwischen genuiner ,Bildung4 und bloßer Ge-
bildetheit4 aus N.s Perspektive vgl. die ausführlichen Darlegungen in NK161,
2-3.
Zum historischen Hintergrund des Pressewesens, das im 19. Jahrhundert
eine enorme Entwicklung durchlief, vgl. (mit weiterführender Literatur) NK 1/1,
368-371 zu GT 20 (KSA 1,130,19-25). Bereits seit 1830 und in besonderem Maße
 
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