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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0121
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Stellenkommentar UB I DS 2, KSA 1, S. 166-167 95

Wissenschaftler in einem Gestus der Suche überein, der ihnen innere Dynamik
und kreatives Potential in einem offenen Experimentierfeld abverlangt. Die
Kulturheroen, deren Qualitätssignum gerade in ihrer Ungenügsamkeit und in
der permanenten Bereitschaft zur Weiterentwicklung liegt, stellt N. den Bil-
dungsphilistern gegenüber, die sich selbstgefällig der Illusion hingeben, sie
könnten sich ihres kulturellen Besitzes sicher sein, und dabei sogar vorausset-
zen, „dass ihre eigene Bildung die reifste und schönste Frucht der Zeit, ja aller
Zeiten sei“, so dass man sich keine „Sorge um die allgemeine deutsche Bil-
dung“ zu machen brauche (162, 8-10). Gerade die sogenannten ,Klassiker4, die
von den Bildungsphilistern oft bis zur Sklerotisierung und Musealisierung ver-
einnahmt und so in ihrer eigentlichen Leistung nicht angemessen gewürdigt
werden, sieht N. wesentlich durch die innere Entwicklungsdynamik von ju-
chenden4 ausgezeichnet. Im Kontext der vorliegenden Textpassage betont N.
auch, dass die Bildungsphilister das produktive Engagement der Kulturschaf-
fenden sogar behindern: Wenn sie das sakrosankte Bild von den angeblich
immer schon fertigen ,Klassikern4 propagieren, deren Werke ihnen aufgrund
geistiger Bequemlichkeit bloß zu harmloser ,Erbauung4 dienen, verhindern sie
die weitere Suchbewegung (168,15-17). So können sie laut N. sogar zum „Laby-
rinth aller Zweifelnden und Verirrten“, zum „Morast aller Ermatteten“ und zur
„Fußfessel aller nach hohen Zielen Laufenden“ werden (167, 1-3). Gravierende
Konsequenzen hat das Verhalten der in beschaulichem „Philisterglück“ (168,
32) verharrenden und erstarrenden Zeitgenossen für die kulturellen Entwick-
lungschancen in der Zukunft: Denn diejenigen, die es sich im Refugium „der
eigenen Beschränktheit“ bequem machen (169, 2), verweigern sich durch geis-
tige Stagnation nicht nur den unkalkulierbaren Risiken ernsthafter Suche, die
N. für die einzig produktive Klassiker-Nachfolge hält (168), sondern blockieren
dadurch auch den kulturellen Fortschritt.
In der Grundtendenz schließt N. mit seinem Plädoyer für die Einstellung
des Suchenden auch an Auffassungen Schopenhauers an, über den er in
UB III SE schreibt: „Für ihn gab es nur Eine Aufgabe und hunderttausend Mit-
tel, sie zu lösen: Einen Sinn und unzählige Hieroglyphen, um ihn auszudrü-
cken. / Es gehörte zu den herrlichen Bedingungen seiner Existenz, dass er
wirklich einer solchen Aufgabe, gemäss seinem Wahlspruche vitam impendere
vero, leben konnte“ (KSA 1, 411, 3-8). Schopenhauer übernimmt die Maxime
„vitam impendere vero“ (das Leben der Wahrheit bzw. dem Wahren weihen)
aus Juvenals Satiren (IV 91) und stellt diesen programmatischen Anspruch auf
kontinuierliche Wahrheitssuche den Bänden I und II seiner Parerga und Parali-
pomena auf den Titelblättern jeweils als Motto voran.
Während sich N. im vorliegenden Kontext von UB I DS generell auf die
„grossen heroischen Gestalten“ (167,12) in verschiedenen Bereichen der Kultur
 
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