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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0339
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Überblickskommentar, Kapitel 11.7: Historismus-Kontext 313

179). Die „radikale Kühnheit“, mit der N. den Wert der Wahrheit hinterfragt,
sieht Scheier „verankert in der gesamten wissenschaftlichen Kultur“ seiner Epo-
che (ebd., 224). Und wenn er N.s Fokussierung auf „das Lebensförderliche“
betont (ebd., 460) und durch ihn den „vitalistischen Pragmatismus“ inauguriert
sieht (ebd., 225), dann steht dabei zumindest implizit auch UBII HL mit im
Fokus.
Im Spannungsfeld philosophischer, historischer und soziologischer Debat-
ten führte der Historismus (auch über die bereits skizzierten Positionen hinaus)
zu kontroversen Stellungnahmen und Diskussionen. Eine differenzierte Cha-
rakterisierung des Historismus und eine Analyse seiner aufschlussreichen kul-
turgeschichtlichen Entstehungsbedingungen entfaltet Karl Mannheim in der
Abhandlung Historismus (1924), die seinen wissenssoziologischen Hauptwer-
ken voranging (Mannheim: Historismus, in: ders.: Wissenssoziologie. Auswahl
aus dem Werk, 2. Aufl. 1970, 246-307). Mannheim situiert den Historismus in
einem weiten philosophiegeschichtlichen und wissenschaftshistorischen Hori-
zont, indem er zentrale Entwicklungen seit der Philosophie der Aufklärung mit
wissenssoziologischen Kategorien analysiert. Mit positivem Nachdruck charak-
terisiert er den Historismus als „eine geistige Macht [...] von unübersehbarer
Tragweite“ und als den ,,wirkliche[n] Träger unserer Weltanschauung“, ja so-
gar als „das Fundament, von dem aus wir die gesellschaftlich-kulturelle Wirk-
lichkeit betrachten“ (ebd., 246). Die zentrale Bedeutung des Historismus arbei-
tet Mannheim heraus, indem er ihn als „ein Prinzip“ beschreibt, „das nicht nur
[...] die gesamte geisteswissenschaftliche Arbeit organisiert, sondern auch das
alltägliche Leben durchdringt“, und zwar durch die Wirksamkeit aller „Realitä-
ten, die uns dabei entgegentreten, als dynamisch gewordene und werdende“
(ebd., 246). Zwar sieht Mannheim, der N. mehrfach knapp erwähnt (vgl. ebd.,
275, 549, 657, 662), „eine unumgängliche Gewissensfrage der Gegenwart“ darin,
„die Probleme des Historismus zu bewältigen“ (ebd., 246), aber sein Plädoyer
zielt dabei keineswegs auf eine substantielle Infragestellung des Historismus.
Vielmehr wirbt Mannheim - ganz im Gegenteil - für den Einsatz „der philoso-
phischen Arbeit von Generationen“, um den Historismus „seiner vollendeten
Gestalt entgegenreifen zu lassen“ und nicht „eine seiner vorläufigen Lösungen
als endgültige hinzunehmen“ (ebd., 247). Denn er klassifiziert den Historismus
ausdrücklich nicht als eine „Mode“ oder „Strömung“ (ebd., 246), sondern ver-
steht ihn als den „organisch gewordene[n] Boden“ der „Weltanschauung“, die
sich im Zuge des Säkularisierungsprozesses „herausbildete“ (ebd., 246-247)
und nun „mit derselben Universalität das Weltbild organisiert, mit der es einst
die Religion getan hat“ (ebd., 247).
Damit begibt sich Mannheim zugleich in Distanz zu vitalistischen Konzep-
ten, die auf dem Primat des Lebens gegenüber dem Historismus insistieren,
 
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