312 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben
Troeltsch, der „Naturalismus und Historismus“ als „die beiden großen Wissen-
schaftsschöpfungen der modernen Welt“ bezeichnet und „Historismus“ als
„das Selbstverständnis des Geistes“ hinsichtlich der „eigenen Hervorbringun-
gen“ in „der Geschichte“ charakterisiert (Troeltsch 1922, 104). Troeltsch befreit
den Begriff ,Historismus4 von seinem „schlechten Nebensinn“ und verwendet
ihn im Sinne „der grundsätzlichen Historisierung alles unseres Denkens über
den Menschen, seine Kultur und seine Werte“ (ebd., 102). - Dieser neutrale
oder sogar positive Begriff des Historismus eröffnet einen weiten kulturge-
schichtlichen Horizont, der auch die Genese des historischen Denkens im Rah-
men der Aufklärungskritik zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit umfasst. Im
Anschluss an Herder hat diese Denkrichtung zur Betonung historischer Indivi-
dualität4 geführt und infolgedessen auch zur Absage an das naturwissenschaft-
liche Paradigma als verbindliches Vorbild für geisteswissenschaftliche For-
schungskulturen. (Vgl. dazu Schnädelbach 1974, 23-30). Wenn allerdings die
historische Variabilität ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, dann stellt sich
zugleich die Frage, „wie Systematisierung von Geschichte möglich sei“: In die-
ser Frage erblickt Schnädelbach „das Leitproblem der Geschichtsphilosophie“
(ebd., 30). Die Prämisse seiner Darstellung liegt in der Überzeugung, dass „die
Probleme des Historismus unsere Probleme sind“, also in der Ansicht, dass
„die unverminderte Aktualität“ dieser Theorien ihre Wirksamkeit auch noch
im geschichtsphilosophischen Diskurs der Gegenwart begründe (ebd., 30). -
Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Heterogenität des Historismus-Begriffs
die Vielfalt der Perspektiven in den Debatten des 19. und 20. Jahrhunderts er-
klärt und damit auch die fundamentalen Unterschiede in der Bewertung des
Phänomens durch die im vorliegenden Kapitel II.7 referierten Autoren: Je nach-
dem, welcher Aspekt des Historismus jeweils dominiert, ändert sich die Urteils-
basis grundlegend.
Max Scheier vertritt in seinem Buch Die Wissensformen und die Gesell-
schaft (1926), in dem er N. mehrfach erwähnt, die Auffassung: „In der Lehre
von der wesensnotwendigen Relativität alles historischen ,Seins4 selbst - und
nicht nur seiner Erkenntnis - ist der Historismus als Weltanschauung [...] über-
wunden“, und zwar sogar „durch sich selbst überwunden“ (Scheier: Gesammel-
te Werke, Bd. 8, 150). Denn - so Scheiers Argumentation - der Historismus
habe „zuerst mit vollem Recht alle ,absoluten4 historischen Autoritäten er-
schüttert, [...] um dann durch die Lehre eines nur absoluten Wertrangordnungs-
systems und die gleichzeitige Lehre vom historischen Wesensperspektivismus
des historischen Seins selbst auch seinerseits außer Kurs gesetzt zu werden“,
so dass der „Weg zur Metaphysik [...] wieder frei“ sei (ebd., 150). An späterer
Stelle spricht Scheier in diesem Sinne von der „Selbstüberwindung des meta-
physikfeindlichen Historismus durch den historischen Perspektivismus“ (ebd.,
Troeltsch, der „Naturalismus und Historismus“ als „die beiden großen Wissen-
schaftsschöpfungen der modernen Welt“ bezeichnet und „Historismus“ als
„das Selbstverständnis des Geistes“ hinsichtlich der „eigenen Hervorbringun-
gen“ in „der Geschichte“ charakterisiert (Troeltsch 1922, 104). Troeltsch befreit
den Begriff ,Historismus4 von seinem „schlechten Nebensinn“ und verwendet
ihn im Sinne „der grundsätzlichen Historisierung alles unseres Denkens über
den Menschen, seine Kultur und seine Werte“ (ebd., 102). - Dieser neutrale
oder sogar positive Begriff des Historismus eröffnet einen weiten kulturge-
schichtlichen Horizont, der auch die Genese des historischen Denkens im Rah-
men der Aufklärungskritik zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit umfasst. Im
Anschluss an Herder hat diese Denkrichtung zur Betonung historischer Indivi-
dualität4 geführt und infolgedessen auch zur Absage an das naturwissenschaft-
liche Paradigma als verbindliches Vorbild für geisteswissenschaftliche For-
schungskulturen. (Vgl. dazu Schnädelbach 1974, 23-30). Wenn allerdings die
historische Variabilität ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, dann stellt sich
zugleich die Frage, „wie Systematisierung von Geschichte möglich sei“: In die-
ser Frage erblickt Schnädelbach „das Leitproblem der Geschichtsphilosophie“
(ebd., 30). Die Prämisse seiner Darstellung liegt in der Überzeugung, dass „die
Probleme des Historismus unsere Probleme sind“, also in der Ansicht, dass
„die unverminderte Aktualität“ dieser Theorien ihre Wirksamkeit auch noch
im geschichtsphilosophischen Diskurs der Gegenwart begründe (ebd., 30). -
Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Heterogenität des Historismus-Begriffs
die Vielfalt der Perspektiven in den Debatten des 19. und 20. Jahrhunderts er-
klärt und damit auch die fundamentalen Unterschiede in der Bewertung des
Phänomens durch die im vorliegenden Kapitel II.7 referierten Autoren: Je nach-
dem, welcher Aspekt des Historismus jeweils dominiert, ändert sich die Urteils-
basis grundlegend.
Max Scheier vertritt in seinem Buch Die Wissensformen und die Gesell-
schaft (1926), in dem er N. mehrfach erwähnt, die Auffassung: „In der Lehre
von der wesensnotwendigen Relativität alles historischen ,Seins4 selbst - und
nicht nur seiner Erkenntnis - ist der Historismus als Weltanschauung [...] über-
wunden“, und zwar sogar „durch sich selbst überwunden“ (Scheier: Gesammel-
te Werke, Bd. 8, 150). Denn - so Scheiers Argumentation - der Historismus
habe „zuerst mit vollem Recht alle ,absoluten4 historischen Autoritäten er-
schüttert, [...] um dann durch die Lehre eines nur absoluten Wertrangordnungs-
systems und die gleichzeitige Lehre vom historischen Wesensperspektivismus
des historischen Seins selbst auch seinerseits außer Kurs gesetzt zu werden“,
so dass der „Weg zur Metaphysik [...] wieder frei“ sei (ebd., 150). An späterer
Stelle spricht Scheier in diesem Sinne von der „Selbstüberwindung des meta-
physikfeindlichen Historismus durch den historischen Perspektivismus“ (ebd.,