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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0337
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Überblickskommentar, Kapitel 11.7: Historismus-Kontext 311

„Stimmungen“ präludiert, die „bis zu Nietzsche“ und zur Gegenwart reichen
und „alle mit dem Aufklärungsgeist irgendwie zusammenhingen“ (ebd., 222).
Herbert Schnädelbach hebt 1983 in seinem Buch Philosophie in Deutsch-
land 1831-1933 zwei wesentliche Aspekte des Historismus hervor: den Wertere-
lativismus und die auf das Erfahrungswissen bezogene positivistische Metho-
dologie, die sich grundlegend von Hegels idealistischer Geschichtsphilosophie
unterscheide (vgl. Schnädelbach 1983, 51). Ausgehend von der Historismus-
Kritik in N.s UB II HL, setzt sich Schnädelbach in seinem Buch Geschichtsphilo-
sophie nach Hegel. Die Probleme des Historismus (1974) eingehend mit verschie-
denen Aspekten der Historismus-Problematik auseinander. Hier differenziert
er zwischen drei unterschiedlichen Typen des Historismus, deren Implikatio-
nen er teilweise auch im kulturellen Diskurszusammenhang beleuchtet. Die
erste Form des Historismus charakterisiert Schnädelbach als den „praktischen
geisteswissenschaftlichen Positivismus in der historischen Forschung“, der „sich
ausschließlich an das positiv Gegebene hält und allem mißtraut, was interpre-
tierend darüber hinausginge“ (Schnädelbach 1974, 20). Die zweite Manifestati-
on des Historismus kennzeichnet er als „eine Denkform“, die sich von systema-
tisch angelegten philosophischen Konzepten grundsätzlich abgrenzt, die
„historische Variabilität und Relativität aller Begriffe und Normen“ betont und
den Anspruch auf eine „zeitlos gültige Systematik“ daher kritisch hinterfragt
(ebd, 20-21). Schnädelbach beschreibt einen ,Historismus4 dieser Art als „philo-
sophische Position, die die Gültigkeit von Begriffen und Normen selbst nur als
etwas historisch Gegebenes aufzufassen bereit ist“, also sowohl in erkenntnis-
theoretischer als auch in moralphilosophischer Hinsicht einen strikten „histo-
rischen Relativismus“ vertritt (ebd., 21). Diese Spezies des Historismus, die mit-
unter sogar einen generellen Skeptizismus oder Agnostizismus implizieren
kann, ordnet Schnädelbach dem philosophischen Diskurs im zeitlichen Umfeld
des Ersten Weltkriegs zu, mithin einer Epoche, in der sich der „historisch gebil-
dete Relativismus“ mit ausgeprägter Desorientierung verband (ebd., 21). In die-
sem Zusammenhang diagnostiziert Schnädelbach eine Tendenz zum „Dogma-
tismus des Gegebenen“, weil sich dieser Typus des Historismus nicht darauf
beschränke, die historischen Fakten selbst für variabel zu halten, sondern eine
derartige Inkonstanz zugleich auch „der begrifflichen Verarbeitung der histori-
schen Informationen“ zuschreibe und insofern eine „reduktionistische These“
vertrete (ebd., 21-22).
Von den beiden beschriebenen Manifestationen des Historismus unter-
scheidet sich die dritte Begriffsvariante insofern, als sie ohne pejorative Konno-
tationen, ja sogar mit positiver Bedeutung Verwendung findet, und zwar in
Abgrenzung vom Naturalismus. In diesem Zusammenhang beruft sich Schnä-
delbach auf das Buch Der Historismus und seine Probleme (1922) von Ernst
 
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