314 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben
mithin implizit auch zu N.s kritischer Zeitdiagnose, die sich „gegen die Ueber-
wucherung des Lebens durch das Historische, gegen die historische Krankheit“
richtet (331, 8-9). Mannheim betrachtet „Nietzsche als Vorläufer der gegenwär-
tigen Neuromantik“ (Mannheim 1970, 549). Seines Erachtens liegt das „Resul-
tat der irrationalistischen Strömungen“, denen er auch „Nietzsche“ zuordnet,
in der Einsicht, „daß es unmöglich geworden ist, einen begrifflichen Schema-
tismus“ von der Art des Hegelianismus „als geschichtsphilosophisches Gerüst
der Geschichte aufzuzwingen“ (ebd., 275). Mit skeptischer Distanz gegenüber
vitalistischen Ideologien konstatiert Mannheim: „Die Romantiker der Gegen-
wart, die [...] das Schlagwort organisch geworden stets im Munde führen und
dieses organisch Gewordene im gegenwärtigen Leben vermissen, merken gar
nicht, daß [...] allein der Historismus es ist, der organisch aus den vorangehen-
den geistesgeschichtlichen Wurzeln erwachsen konnte“ (ebd., 247). Mit dieser
Einschätzung spielt Mannheim auf einen folgenreichen kulturgeschichtlichen
Prozess an: nämlich auf die Genese des Historismus, „nachdem das religiös
gebundene Weltbild des Mittelalters sich zersetzte und nachdem das aus ihm
säkularisierte Weltbild der Aufklärung mit dem Grundgedanken einer über-
zeitlichen Vernunft sich selbst aufgehoben hatte“ (ebd., 247). Während N. den
Historismus in UB II HL problematisiert, stellt Mannheim fest: „Nicht die Ge-
schichtsschreibung hat uns den Historismus gebracht, sondern der Geschichts-
prozeß hat uns zu Historisten gemacht“ (ebd. 247). Seines Erachtens war „der
Entwicklungsgedanke“ als „Kristallisationspunkt“ dabei von zentraler Bedeu-
tung, weil er überhaupt erst „die philosophische Achse“ der „neuen Ge-
schichtsschreibung“ und „Lebensanschauung“ schuf (ebd., 248).
Das „Ziel, aber auch eine vorweggenommene Vision des vollendeten Histo-
rismus“ erblickt Mannheim darin, dass er sich „als universales, metaphysi-
sches und methodisches Prinzip in allen Geisteswissenschaften durchsetzt“,
bis „unsere Welt gerade mit Hilfe des Historismus wieder philosophisch wer-
den“ kann (ebd., 250). Damit betont er Perspektiven eines „lebendigen Den-
kens“, das durch eine Ausrichtung auf die „historisch gewordenen Gestalten
des Weltsubstrates“ (ebd., 252) Alternativen zu einem deduktiv-systematischen
Zugriff erprobt (ebd., 251). Dieses programmatisch zukunftsorientierte Konzept
des Historismus unterscheidet sich zwar grundlegend von N.s kritischer Diag-
nose der zeitgenössischen Symptome des Historismus in UB II HL, lässt aber
eine Affinität zu N.s späterer Abkehr vom „Wille[n] zum System“ in der Götzen-
Dämmerung erkennen (KSA 6, 63, 9).
Während N. in UB II HL das Spannungsverhältnis von Leben und Historie
entfaltet, plädiert Mannheim dafür, „die Philosophie des Historismus zu Ende
[zu] denken“ und dabei auch „das Faktum der Geschichtlichkeit aller Philoso-
phie“ sowie ihren „organischen Gestaltwandel“ mitzuberücksichtigen (Mann-
mithin implizit auch zu N.s kritischer Zeitdiagnose, die sich „gegen die Ueber-
wucherung des Lebens durch das Historische, gegen die historische Krankheit“
richtet (331, 8-9). Mannheim betrachtet „Nietzsche als Vorläufer der gegenwär-
tigen Neuromantik“ (Mannheim 1970, 549). Seines Erachtens liegt das „Resul-
tat der irrationalistischen Strömungen“, denen er auch „Nietzsche“ zuordnet,
in der Einsicht, „daß es unmöglich geworden ist, einen begrifflichen Schema-
tismus“ von der Art des Hegelianismus „als geschichtsphilosophisches Gerüst
der Geschichte aufzuzwingen“ (ebd., 275). Mit skeptischer Distanz gegenüber
vitalistischen Ideologien konstatiert Mannheim: „Die Romantiker der Gegen-
wart, die [...] das Schlagwort organisch geworden stets im Munde führen und
dieses organisch Gewordene im gegenwärtigen Leben vermissen, merken gar
nicht, daß [...] allein der Historismus es ist, der organisch aus den vorangehen-
den geistesgeschichtlichen Wurzeln erwachsen konnte“ (ebd., 247). Mit dieser
Einschätzung spielt Mannheim auf einen folgenreichen kulturgeschichtlichen
Prozess an: nämlich auf die Genese des Historismus, „nachdem das religiös
gebundene Weltbild des Mittelalters sich zersetzte und nachdem das aus ihm
säkularisierte Weltbild der Aufklärung mit dem Grundgedanken einer über-
zeitlichen Vernunft sich selbst aufgehoben hatte“ (ebd., 247). Während N. den
Historismus in UB II HL problematisiert, stellt Mannheim fest: „Nicht die Ge-
schichtsschreibung hat uns den Historismus gebracht, sondern der Geschichts-
prozeß hat uns zu Historisten gemacht“ (ebd. 247). Seines Erachtens war „der
Entwicklungsgedanke“ als „Kristallisationspunkt“ dabei von zentraler Bedeu-
tung, weil er überhaupt erst „die philosophische Achse“ der „neuen Ge-
schichtsschreibung“ und „Lebensanschauung“ schuf (ebd., 248).
Das „Ziel, aber auch eine vorweggenommene Vision des vollendeten Histo-
rismus“ erblickt Mannheim darin, dass er sich „als universales, metaphysi-
sches und methodisches Prinzip in allen Geisteswissenschaften durchsetzt“,
bis „unsere Welt gerade mit Hilfe des Historismus wieder philosophisch wer-
den“ kann (ebd., 250). Damit betont er Perspektiven eines „lebendigen Den-
kens“, das durch eine Ausrichtung auf die „historisch gewordenen Gestalten
des Weltsubstrates“ (ebd., 252) Alternativen zu einem deduktiv-systematischen
Zugriff erprobt (ebd., 251). Dieses programmatisch zukunftsorientierte Konzept
des Historismus unterscheidet sich zwar grundlegend von N.s kritischer Diag-
nose der zeitgenössischen Symptome des Historismus in UB II HL, lässt aber
eine Affinität zu N.s späterer Abkehr vom „Wille[n] zum System“ in der Götzen-
Dämmerung erkennen (KSA 6, 63, 9).
Während N. in UB II HL das Spannungsverhältnis von Leben und Historie
entfaltet, plädiert Mannheim dafür, „die Philosophie des Historismus zu Ende
[zu] denken“ und dabei auch „das Faktum der Geschichtlichkeit aller Philoso-
phie“ sowie ihren „organischen Gestaltwandel“ mitzuberücksichtigen (Mann-