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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0351
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Überblickskommentar, Kapitel 11.8: Wirkungsgeschichte 325

Gedanken“ seiner „ersten philosophischen Periode“, nämlich „das Dionysische,
die Dekadenz, das Unzeitgemäße“ und den „Geniekultus“, in späteren Schaf-
fensphasen N.s prolongiert sieht, bis schließlich nach dem Verlust des meta-
physischen Fundaments „der Geniekultus ins Ungeheure wächst“ (ebd., 71).
Die breite Wirkungsgeschichte von N.s Historienschrift lässt sich oftmals,
wenn auch nicht in allen Fällen exakt rekonstruieren und belegen. So hatte
UBII HL Einfluss auf Wilhelm Diltheys Werk Einleitung in die Geisteswissen-
schaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der
Geschichte (1883). Bereits in seiner Widmung an den mit ihm befreundeten
Grafen Paul Yorck von Wartenburg kündigt Dilthey eine „Kritik der histori-
schen Vernunft“ an (Dilthey: Gesammelte Schriften, Bd. 1, 6. Aufl. 1966, S. IX)
und stellt sein Projekt durch die markante Strukturanalogie zugleich in eine
Reihe mit den drei Kritiken Kants. Während Kant in der Kritik der reinen Ver-
nunft das erkenntnistheoretische Fundament der Realitätserfahrung reflektiert,
um damit auch die Basis naturwissenschaftlicher Erkenntnis zu bestimmen,
will Dilthey durch eine ,Kritik der historischen Vernunft4 die „Frage nach den
philosophischen Grundlagen der Geisteswissenschaften“ beantworten (ebd.,
XV). Obwohl er teilweise auch an transzendentalphilosophische Prinzipien an-
schließt, grenzt sich Dilthey mit seinem Denkansatz zugleich von Kant ab, in-
dem er die geschichtliche Dimension der Vernunft betont. In der Vorrede4 zu
seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften beruft sich Dilthey explizit auf
„die historische Schule“, durch die er „die Emanzipation des geschichtlichen
Bewußtseins und der geschichtlichen Wissenschaft“ verwirklicht sieht (ebd.,
XV) . Unter dem Einfluss einer „rein empirische[n] Betrachtungsweise“ sei zwar
auch „ein universaler Geist der Geschichtsbetrachtung“ entstanden, aber ein
fundamentales Desiderat erblickt Dilthey darin, dass ihr bislang „eine philoso-
phische Grundlegung“ gefehlt habe, die „einer erklärenden Methode“ hätte
Vorschub leisten können (ebd., XVI). Dieses Vakuum gab laut Dilthey Anlass
zur „Übertragung naturwissenschaftlicher Prinzipien und Methoden“ (ebd.,
XVI) , die allerdings zu deskriptiven Reduktionismen und fragwürdigen Genera-
lisierungen führten, weil positivistische und empiristische Theoretiker „die ge-
schichtliche Wirklichkeit zu verstümmeln“ schienen (ebd., XVII).
Im Sinne der Gelehrtenkritik, die N. in UB II HL und UB III SE entfaltet,
und gemäß der für seine Historienschrift maßgeblichen, den cartesianischen
Rationalismus invertierenden Maxime „vivo, ergo cogito“ (329, 8-9) plädiert
auch Dilthey für den ganzheitlichen Horizont einer vitalistisch grundierten Ge-
schichtswissenschaft. Zwar glaubt er sich „vielfach in Übereinstimmung“ mit
der Erkenntnistheorie „von Locke, Hume und Kant“, aber zugleich meint er, in
„den Adern“ des von ihnen „konstruierten“ Subjekts rinne „nicht wirkliches
Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit“ (Dil-
 
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