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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,2): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0352
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326 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

they, Bd. 1,1966, XVIII). Solchen durch rationalistische Einseitigkeit entstande-
nen Reduktionismen begegnet Dilthey selbst - im Sinne N.s - mit einem Ge-
genentwurf, indem er erklärt: „Mich führte aber historische wie psychologische
Beschäftigung mit dem ganzen Menschen dahin, diesen, in der Mannigfaltig-
keit seiner Kräfte, dies wollend fühlend vorstehende Wesen auch der Erklärung
der Erkenntnis [...] zugrunde zu legen“ (ebd., XVIII). Insofern spricht sich Dil-
they für eine „Entwicklungsgeschichte“ aus, „welche von der Totalität unseres
Wesens ausgeht“ (ebd., XVIII), und propagiert die Lebensphilosophie als Alter-
native zur Einseitigkeit einer wissenschaftlichen Rationalität. Denn „in unse-
rem ganzen wollend fühlend vorstehenden Wesen ist uns mit unserem Selbst
zugleich [...] Wirklichkeit [...] gegeben; sonach als Leben, nicht als bloßes Vor-
stehen“ (ebd., XIX).
Auf diese Standortbestimmung beruft sich Dilthey mit einem Selbstzitat
später auch in seinem Buch Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des
Lebens. Erste Hälfte: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften
(1924). Zugleich schließt er hier (vgl. Dilthey: Gesammelte Schriften, Bd. 5, 5.
Aufl. 1968, 97-98) sogar ausdrücklich an N. an, indem er dessen Abkehr von
der „systematischen Philosophie [...] als Wissenschaft“ betont und „das Wesen
dieser modernen Lebensphilosophie zu erfassen“ sucht (ebd., 370). Diltheys
Erkenntnisinteresse erklärt sich auch dadurch, dass er „die stärksten Wirkun-
gen“ der zeitgenössischen Philosophie gerade „nicht von den Systemen ausge-
hen“ sieht, sondern von einem solchen „freien philosophischen Denken“, das
seines Erachtens sogar „die ganze Literatur durchdringt“ (ebd., 412). In der
Rede zum 70. Geburtstag (1903) resümiert Dilthey in seinem Buch Die geistige
Welt mit deutlicher Affinität zu Konzepten N.s: „Die Endlichkeit jeder ge-
schichtlichen Erscheinung, sie sei eine Religion oder ein Ideal oder philosophi-
sches System, sonach die Relativität jeder Art von menschlicher Auffassung
des Zusammenhanges der Dinge ist das letzte Wort der historischen Weltan-
schauung, alles im Prozeß fließend, nichts bleibend“ (ebd., 9). Zwar charakte-
risiert Dilthey die „geschichtliche Weltanschauung“ als „die Befreierin des
menschlichen Geistes“, aber zugleich hebt er die Problematik einer drohenden
„Anarchie der Überzeugungen“ hervor (ebd., 9). Er selbst beabsichtigt durch
Untersuchungen zur „Natur und [...] Bedingung des geschichtlichen Bewußt-
seins“ auch im Sinne der Differenzierung eine „Kritik der historischen Ver-
nunft“ (ebd., 9).
Hier sind Analogien zu N.s Kulturdiagnosen in UBII HL zu erkennen: Ge-
meinsam ist N. und Dilthey angesichts von Werterelativismus und Desorientie-
rung als Symptomen des zeitgenössischen Historismus eine ausgeprägte le-
bensphilosophische Orientierung. Und bereits N. spricht in seiner Diagnose der
historischen Krankheit4 von „chaotischen“ Tendenzen (272, 34), denen die von
 
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