Überblickskommentar, Kapitel 11.8: Wirkungsgeschichte 327
Dilthey befürchtete „Anarchie der Überzeugungen“ (Dilthey, Bd. 5, 1968, 9)
zu entsprechen scheint. Im Vergleich zu N. blickt Dilthey allerdings mit posi-
tiveren Einschätzungen auf die 1850er Jahre zurück, in denen er „die große
Bewegung auf ihrem Höhepunkt“ erlebte, „in welcher sich die definitive Kon-
stituierung der historischen Wissenschaft und hierdurch vermittelt der Geistes-
wissenschaften überhaupt“ vollzog (ebd., 7). Martin Heidegger weist in Sein
und Zeit (1927) nachdrücklich auf dieses Anliegen Diltheys hin: „Weil aber die
Grundbegriffe der historischen Wissenschaften [...] Existenzbegriffe sind, hat
die Theorie der Geisteswissenschaften eine thematisch existenziale Interpreta-
tion der Geschichtlichkeit des Daseins zur Voraussetzung. Sie ist das ständige
Ziel, dem sich die Forschungsarbeit W. Diltheys näher zu bringen sucht“ (Hei-
degger, 15. Aufl. 1979, 397).
Trotz der Übereinstimmungen mit N. im Bereich lebensphilosophischer
Grundorientierung, die den Primat des Lebens gegenüber der Historie voraus-
setzt, entfaltet Dilthey in seinem Buch Weltanschauungslehre. Abhandlungen
zur Philosophie der Philosophie allerdings eine weitreichende Kritik am Denk-
gestus N.s in seinen unterschiedlichen Schaffensphasen (vgl. Dilthey: Gesam-
melte Schriften, Bd. 8,1931). Kritische Perspektiven auf N.s intellektuellen Wer-
degang formuliert Dilthey hier im Kapitel „Handschriftliche Zusätze und
Ergänzungen der Abhandlung über die Typen der Weltanschauung“, und zwar
unter der Überschrift „Zu: Begriff der Philosophie: Nietzsche“ (ebd., 162-164).
In diesem auf „Universitätsbogen von 1898“ (ebd., 255) per Diktat niederge-
schriebenen Text thematisiert Dilthey erstens die in der Historienschrift (wie
in N.s Frühwerk insgesamt) vollzogene Abwertung des Erkennens, die Absolut-
setzung der Kunst und des Künstlers sowie den von N. im Dienste des „Lebens“
propagierten kulturreformatorischen Anspruch. Nachdem Dilthey zweitens die
Bedeutung des wissenschaftlichen Bewusstseins in Menschliches, Allzumensch-
liches hervorgehoben hat, wendet er sich in einem dritten Schritt der Vorstel-
lung vom wertsetzenden Philosophen zu, die N. in späteren Werken immer
stärker zur Geltung bringt. Vor allem formuliert Dilthey eine psychologisch
scharfsichtige Diagnose der mentalen Disposition, die er für die fundamentalen
Umbrüche und Neuorientierungen in N.s Denken verantwortlich macht (ebd.,
162-163):
„Die letzte Folgerung, welche jemand aus der Verneinung der Erkenntnis in ihrem dis-
kursiven, logischen Verfahren ziehen konnte, ist in Nietzsche repräsentiert und von ihm
ausgesprochen. Der kulturschaffende Mensch ist ihm erst der Künstler, dann das wissen-
schaftliche Bewußtsein, endlich, da er auch an dessen Mission verzweifelt, der wertschaf-
fende, wertsetzende Philosoph. Es ist in der Natur des exzentrischen Gefühls- und Phanta-
siemenschen, wenn er seine ganze Lebendigkeit hineinverlegt hat in eine Gestalt des
Daseins, wenn er das Unzureichende in ihr eben darum erfährt, weil keine einzelne Ge-
stalt des Lebens alles ist, daß dieser dann ebenso grenzenlos verneint, als er vorher bejaht
Dilthey befürchtete „Anarchie der Überzeugungen“ (Dilthey, Bd. 5, 1968, 9)
zu entsprechen scheint. Im Vergleich zu N. blickt Dilthey allerdings mit posi-
tiveren Einschätzungen auf die 1850er Jahre zurück, in denen er „die große
Bewegung auf ihrem Höhepunkt“ erlebte, „in welcher sich die definitive Kon-
stituierung der historischen Wissenschaft und hierdurch vermittelt der Geistes-
wissenschaften überhaupt“ vollzog (ebd., 7). Martin Heidegger weist in Sein
und Zeit (1927) nachdrücklich auf dieses Anliegen Diltheys hin: „Weil aber die
Grundbegriffe der historischen Wissenschaften [...] Existenzbegriffe sind, hat
die Theorie der Geisteswissenschaften eine thematisch existenziale Interpreta-
tion der Geschichtlichkeit des Daseins zur Voraussetzung. Sie ist das ständige
Ziel, dem sich die Forschungsarbeit W. Diltheys näher zu bringen sucht“ (Hei-
degger, 15. Aufl. 1979, 397).
Trotz der Übereinstimmungen mit N. im Bereich lebensphilosophischer
Grundorientierung, die den Primat des Lebens gegenüber der Historie voraus-
setzt, entfaltet Dilthey in seinem Buch Weltanschauungslehre. Abhandlungen
zur Philosophie der Philosophie allerdings eine weitreichende Kritik am Denk-
gestus N.s in seinen unterschiedlichen Schaffensphasen (vgl. Dilthey: Gesam-
melte Schriften, Bd. 8,1931). Kritische Perspektiven auf N.s intellektuellen Wer-
degang formuliert Dilthey hier im Kapitel „Handschriftliche Zusätze und
Ergänzungen der Abhandlung über die Typen der Weltanschauung“, und zwar
unter der Überschrift „Zu: Begriff der Philosophie: Nietzsche“ (ebd., 162-164).
In diesem auf „Universitätsbogen von 1898“ (ebd., 255) per Diktat niederge-
schriebenen Text thematisiert Dilthey erstens die in der Historienschrift (wie
in N.s Frühwerk insgesamt) vollzogene Abwertung des Erkennens, die Absolut-
setzung der Kunst und des Künstlers sowie den von N. im Dienste des „Lebens“
propagierten kulturreformatorischen Anspruch. Nachdem Dilthey zweitens die
Bedeutung des wissenschaftlichen Bewusstseins in Menschliches, Allzumensch-
liches hervorgehoben hat, wendet er sich in einem dritten Schritt der Vorstel-
lung vom wertsetzenden Philosophen zu, die N. in späteren Werken immer
stärker zur Geltung bringt. Vor allem formuliert Dilthey eine psychologisch
scharfsichtige Diagnose der mentalen Disposition, die er für die fundamentalen
Umbrüche und Neuorientierungen in N.s Denken verantwortlich macht (ebd.,
162-163):
„Die letzte Folgerung, welche jemand aus der Verneinung der Erkenntnis in ihrem dis-
kursiven, logischen Verfahren ziehen konnte, ist in Nietzsche repräsentiert und von ihm
ausgesprochen. Der kulturschaffende Mensch ist ihm erst der Künstler, dann das wissen-
schaftliche Bewußtsein, endlich, da er auch an dessen Mission verzweifelt, der wertschaf-
fende, wertsetzende Philosoph. Es ist in der Natur des exzentrischen Gefühls- und Phanta-
siemenschen, wenn er seine ganze Lebendigkeit hineinverlegt hat in eine Gestalt des
Daseins, wenn er das Unzureichende in ihr eben darum erfährt, weil keine einzelne Ge-
stalt des Lebens alles ist, daß dieser dann ebenso grenzenlos verneint, als er vorher bejaht