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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0367
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Überblickskommentar, Kapitel 11.8: Wirkungsgeschichte 341

Thomas Mann befreundet war, Jahrzehnte nach seinem N.-Buch allerdings zum
Anhänger des Nationalsozialismus wurde, sind auch die Betrachtungen eines
Unpolitischen noch von einer rückwärtsgewandten, antirationalistischen und
kulturkonservativen Mentalität bestimmt, von der sich Thomas Mann seit 1922
durch sein Eintreten für die Weimarer Republik dann zusehends distanzierte.
Sowohl Thomas Mann als auch Ernst Bertram versuchten N. 1918 für ein anti-
demokratisches, antimodernes ,Deutschtum4 in Anspruch zu nehmen (vgl.
dazu Aschheim 1996, 151-155).
Vielfältige Einflüsse von Konzepten aus allen Schaffensphasen N.s sind
bei Robert Musil festzustellen. Im Anschluss an die Diagnosen zur kulturellen
Krisensituation in N.s UBII HL reflektiert auch Musil in seinem Epochenroman
Der Mann ohne Eigenschaften problematische Folgen von Historismus, Positi-
vismus und anderen Phänomenen der zivilisatorischen Entwicklung. Wenn
Musil im Roman das „Abstraktwerden des Lebens“ in der Moderne diagnosti-
ziert (Musil 1978, Bd. I, 649), dann treten Affinitäten zu Aussagen in UB II HL
hervor. Denn hier hebt N. ebenfalls eine Tendenz zum Abstrakten hervor: Infol-
ge einer „Austreibung der Instincte durch Historie“ sieht er die zeitgenössi-
schen „Menschen fast zu lauter abstractis und Schatten“ degeneriert (280, 28-
29), die er dann mit einem Oxymoron als „concrete Abstracta“ charakterisiert
(283, 5). Außerdem greift Musil in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften
noch auf andere Konzepte und Tendenzen N.s zurück, etwa auf Geistesaristo-
kratismus und Perspektivismus sowie auf Decadence-Diagnose, Moralkritik,
Experimental-Philosophie und Übermensch-Ideologie (vgl. dazu Neymeyr 2005,
107-200, 390-410 und 2009b, 163-182).
Auch in seinen kulturkritischen Essays schließt Musil an N. an: So diagnos-
tiziert er Symptome der zeitgenössischen Krisenkonstellation und erklärt, die
chaotische Überfülle geistiger Impulse und die dadurch entstandene Diffusion
und Desorientierung lasse sich nur mithilfe von Struktur und Organisation be-
wältigen, also durch intellektuelle Verarbeitungskapazität. In seinem satiri-
schen Spengler-Essay Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem
Untergang des Abendlandes entronnen sind (1921) versteht Musil Zivilisation4
im Sinne N.s als einen „diffus gewordenen Kulturzustand“, dessen Problematik
nur durch „geistige Organisationspolitik“ gelöst werden könne (Musil 1978, Bd.
II, 1057, 1058). Vgl. dazu Neymeyr 2009c, 95-127, 162-188. - Ähnlich wie N.
angesichts der Historismus-Problematik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun-
derts diagnostiziert Robert Musil in der Krisensituation der 1920er Jahre einen
„nicht mehr zu bewältigende[n] Reichtum an Inhalten, das angeschwollene
Tatsachenwissen [...], das Unübersehbare, das Chaos des Nichtwegzuleugnen-
den“ (Musil 1978, Bd. II, 1045). Der Pluralismus heterogener geistiger Strömun-
gen, darunter Rationalismus und Antirationalismus, Individualismus und Kol-
 
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