342 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben
lektivismus, führt gemäß Musils Essay Das hilflose Europa (1922) zu einer
„unerhörten Einzelkrämerei“ (ebd., 1087-1088) und hat, wie er in seinem Essay
Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit (1921) feststellt, ein inneres „Vakuum“
zur Folge (ebd., 1062). Auch unfundierte geschichtsphilosophische Begriffe wie
Vernunft4 und ,Fortschritt4 tragen nach Musils Ansicht nicht zur Krisenbewälti-
gung bei (ebd., 1086-1087). Schon N. äußert sich aufgrund seiner problemori-
entierten Diagnosen zur Krisensituation der Epoche wiederholt skeptisch über
den zeitgenössischen Fortschrittsglauben. Belege dafür finden sich bereits 1872
in seinen nachgelassenen Vorträgen Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstal-
ten, zwei Jahre später dann auch in UBII HL: Hier polemisiert N. im 9. Kapitel
gegen die optimistischen Konzepte, mit denen der , Bildungsphilister4 Eduard
von Hartmann an den gerade während der Gründerzeit im liberalen Bürgertum
weit verbreiteten Fortschrittsglauben anschließt.
Mit Auffassungen N.s korrespondieren sowohl Aspekte von Musils kriti-
schen Zeitdiagnosen als auch die Folgerungen, die er selbst aus der Epochen-
problematik ableitet. N. betont in UB II HL die Gefahr, „an der Ueberschwem-
mung durch das Fremde und Vergangne, an der,Historie4 zu Grunde zu gehen“
(333, 7-9). Angesichts dieser Problematik hält er es für notwendig, dass jedes
Individuum „das Chaos in sich [zu] organisiren“ versucht (333, 28). Im Sinne
dieses Postulats schließt Musil seinen Essay Anmerkung zu einer Metapsychik
(1914) mit einem emphatischen Bekenntnis ab, das N. einen singulären Status
zuschreibt: „Wir Deutschen haben - außer dem einen großen Versuch Nietz-
sches - keine Bücher über den Menschen; keine Systematiker und Organisato-
ren des Lebens. Künstlerisches und wissenschaftliches Denken berühren sich
bei uns noch nicht. Die Fragen einer Mittelzone zwischen beiden bleiben unge-
löst“ (Musil 1978, Bd. II, 1019). Zu Musils Zeitdiagnose und Kulturkritik (mit
Seitenblicken u. a. auf N.) vgl. Neymeyr 2009c, 29, 95-169.
Affinitäten zu N.s Historienschrift (258-264, 283-285, 319-320) lässt auch
eine Tagebuch-Notiz Musils erkennen: „Geschichte wird nur durch Persönlich-
keiten gemacht, nie durch Masse. Masse ist immer gemein“ (Musil 1976, Bd. I,
434). Damit schließt Musil wörtlich an Einschätzungen N.s an, der in UB II HL
betont, „wie gemein und ekelhaft uniform die Masse ist“ (320, 10-11), und ge-
gen eine positive Deutung der modernen Massenzivilisation polemisiert, weil
dabei „Quantität und Qualität“ verwechselt werde (320, 26). Skeptisch stellt N.
fest: „Da soll die Masse aus sich heraus das Grosse, das Chaos also aus sich
heraus die Ordnung gebären; am Ende wird dann natürlich der Hymnus auf
die gebärende Masse angestimmt“ (320, 20-23). Er selbst hingegen meint: „Das
Edelste und Höchste wirkt gar nicht auf die Massen“ (320, 31-32). In verschie-
denerlei Hinsicht zeichnen sich in Musils kulturkritischen und anthropologi-
schen Konzepten deutliche Analogien zu N.s UB II HL ab: Ähnlich wie N. re-
lektivismus, führt gemäß Musils Essay Das hilflose Europa (1922) zu einer
„unerhörten Einzelkrämerei“ (ebd., 1087-1088) und hat, wie er in seinem Essay
Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit (1921) feststellt, ein inneres „Vakuum“
zur Folge (ebd., 1062). Auch unfundierte geschichtsphilosophische Begriffe wie
Vernunft4 und ,Fortschritt4 tragen nach Musils Ansicht nicht zur Krisenbewälti-
gung bei (ebd., 1086-1087). Schon N. äußert sich aufgrund seiner problemori-
entierten Diagnosen zur Krisensituation der Epoche wiederholt skeptisch über
den zeitgenössischen Fortschrittsglauben. Belege dafür finden sich bereits 1872
in seinen nachgelassenen Vorträgen Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstal-
ten, zwei Jahre später dann auch in UBII HL: Hier polemisiert N. im 9. Kapitel
gegen die optimistischen Konzepte, mit denen der , Bildungsphilister4 Eduard
von Hartmann an den gerade während der Gründerzeit im liberalen Bürgertum
weit verbreiteten Fortschrittsglauben anschließt.
Mit Auffassungen N.s korrespondieren sowohl Aspekte von Musils kriti-
schen Zeitdiagnosen als auch die Folgerungen, die er selbst aus der Epochen-
problematik ableitet. N. betont in UB II HL die Gefahr, „an der Ueberschwem-
mung durch das Fremde und Vergangne, an der,Historie4 zu Grunde zu gehen“
(333, 7-9). Angesichts dieser Problematik hält er es für notwendig, dass jedes
Individuum „das Chaos in sich [zu] organisiren“ versucht (333, 28). Im Sinne
dieses Postulats schließt Musil seinen Essay Anmerkung zu einer Metapsychik
(1914) mit einem emphatischen Bekenntnis ab, das N. einen singulären Status
zuschreibt: „Wir Deutschen haben - außer dem einen großen Versuch Nietz-
sches - keine Bücher über den Menschen; keine Systematiker und Organisato-
ren des Lebens. Künstlerisches und wissenschaftliches Denken berühren sich
bei uns noch nicht. Die Fragen einer Mittelzone zwischen beiden bleiben unge-
löst“ (Musil 1978, Bd. II, 1019). Zu Musils Zeitdiagnose und Kulturkritik (mit
Seitenblicken u. a. auf N.) vgl. Neymeyr 2009c, 29, 95-169.
Affinitäten zu N.s Historienschrift (258-264, 283-285, 319-320) lässt auch
eine Tagebuch-Notiz Musils erkennen: „Geschichte wird nur durch Persönlich-
keiten gemacht, nie durch Masse. Masse ist immer gemein“ (Musil 1976, Bd. I,
434). Damit schließt Musil wörtlich an Einschätzungen N.s an, der in UB II HL
betont, „wie gemein und ekelhaft uniform die Masse ist“ (320, 10-11), und ge-
gen eine positive Deutung der modernen Massenzivilisation polemisiert, weil
dabei „Quantität und Qualität“ verwechselt werde (320, 26). Skeptisch stellt N.
fest: „Da soll die Masse aus sich heraus das Grosse, das Chaos also aus sich
heraus die Ordnung gebären; am Ende wird dann natürlich der Hymnus auf
die gebärende Masse angestimmt“ (320, 20-23). Er selbst hingegen meint: „Das
Edelste und Höchste wirkt gar nicht auf die Massen“ (320, 31-32). In verschie-
denerlei Hinsicht zeichnen sich in Musils kulturkritischen und anthropologi-
schen Konzepten deutliche Analogien zu N.s UB II HL ab: Ähnlich wie N. re-