340 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben
zu sein, - aber das liefe dem analytischen und unkünstlerischen Zug der Zeit
zuwider. Historie treibt die Instinkte aus“, und sie „unterschätzt stets das Wer-
dende und lähmt die Tat“ (ebd., 689).
Während Thomas Mann im vorliegenden Kontext den argumentativen Ges-
tus von UB II HL affirmativ nachzeichnet und dabei positiv hervorhebt, N. wol-
le in „sehr schöner und edler Weise [...] das Überhistorische“, mithin „Kunst
und Religion“ (Thomas Mann 1990, Bd. IX, 689), weist er in späteren Partien
seines Essays Nietzsche’s Philosophie im Lichte unserer Erfahrung mit Nachdruck
auch auf die Problematik des Antirationalismus bei N. hin: Er diagnostiziert
„zwei Irrtümer, die das Denken Nietzsche’s verstören und ihm verhängnisvoll
werden. Der erste ist eine völlige [...] Verkennung des Machtverhältnisses zwi-
schen Instinkt und Intellekt auf Erden, so, als sei dieser das gefährlich Domi-
nierende“, so dass es „den Instinkt vor ihm zu retten“ gelte (ebd., 695). Ange-
sichts der Beobachtung, „wie völlig bei der großen Mehrzahl der Menschen der
Wille, der Trieb, das Interesse den Intellekt, die Vernunft, das Rechtsgefühl
beherrschen und niederhalten“, erscheinen Thomas Mann antirationalistische
Prinzipien geradezu als „etwas Absurdes [...]. Als ob es nötig wäre, das Leben
gegen den Geist zu verteidigen! Als ob die geringste Gefahr bestünde, daß es
je zu geistig zugehen könnte auf Erden!“ (ebd., 696).
Den „zweifeln] von Nietzsche’s Irrtümern“ erblickt Thomas Mann in der
Kontrastierung von „Leben und Moral“, der er selbst aufgrund seiner humanis-
tischen Prinzipien die Überzeugung von deren Synthese entgegenhält: „Ethik
ist Lebensstütze. [...] Der wahre Gegensatz ist der von Ethik und Ästhetik“ (ebd.,
696). Den „Grundgedanken“ N.s betrachtet Thomas Mann als einen Gedanken
„radikal ästhetischer Art“, der zugleich „in unversöhnlichen Gegensatz zu al-
lem Sozialismus geraten muß“: Seines Erachtens ist „Nietzsche [...] der voll-
kommenste und rettungsloseste Ästhet, den die Geschichte des Geistes kennt“
(ebd., 706). Und das radikale, vom Früh- bis zum Spätwerk reichende Verdikt
N.s über „den theoretischen Menschen“4 konterkariert Thomas Mann durch
die Feststellung: „aber er selbst ist dieser theoretische Mensch par excellence
und in Reinkultur, sein Denken ist absolute Genialität, unpragmatisch [bis]
zum Äußersten, bar jeder pädagogischen Verantwortung [...], es ist in Wahrheit
ohne Beziehung zum Leben“, dem auch in der Historienschrift „verteidigten,
über alles erhobenen“ Leben (ebd., 709). (Zur impliziten Rezeption von N.s WL
bei Thomas Mann vgl. Neymeyr 2013, 18-43).
Allerdings unterscheidet sich das N.-Bild Thomas Manns in diesem späten
Essay grundlegend vom Zuschnitt seiner antidemokratischen und zivilisations-
kritischen Betrachtungen eines Unpolitischen (1918), die schon in der Titelwahl
an die Unzeitgemässen Betrachtungen N.s erinnern. Wie das ebenfalls 1918 er-
schienene Buch Nietzsche. Versuch einer Mythologie von Ernst Bertram, der mit
zu sein, - aber das liefe dem analytischen und unkünstlerischen Zug der Zeit
zuwider. Historie treibt die Instinkte aus“, und sie „unterschätzt stets das Wer-
dende und lähmt die Tat“ (ebd., 689).
Während Thomas Mann im vorliegenden Kontext den argumentativen Ges-
tus von UB II HL affirmativ nachzeichnet und dabei positiv hervorhebt, N. wol-
le in „sehr schöner und edler Weise [...] das Überhistorische“, mithin „Kunst
und Religion“ (Thomas Mann 1990, Bd. IX, 689), weist er in späteren Partien
seines Essays Nietzsche’s Philosophie im Lichte unserer Erfahrung mit Nachdruck
auch auf die Problematik des Antirationalismus bei N. hin: Er diagnostiziert
„zwei Irrtümer, die das Denken Nietzsche’s verstören und ihm verhängnisvoll
werden. Der erste ist eine völlige [...] Verkennung des Machtverhältnisses zwi-
schen Instinkt und Intellekt auf Erden, so, als sei dieser das gefährlich Domi-
nierende“, so dass es „den Instinkt vor ihm zu retten“ gelte (ebd., 695). Ange-
sichts der Beobachtung, „wie völlig bei der großen Mehrzahl der Menschen der
Wille, der Trieb, das Interesse den Intellekt, die Vernunft, das Rechtsgefühl
beherrschen und niederhalten“, erscheinen Thomas Mann antirationalistische
Prinzipien geradezu als „etwas Absurdes [...]. Als ob es nötig wäre, das Leben
gegen den Geist zu verteidigen! Als ob die geringste Gefahr bestünde, daß es
je zu geistig zugehen könnte auf Erden!“ (ebd., 696).
Den „zweifeln] von Nietzsche’s Irrtümern“ erblickt Thomas Mann in der
Kontrastierung von „Leben und Moral“, der er selbst aufgrund seiner humanis-
tischen Prinzipien die Überzeugung von deren Synthese entgegenhält: „Ethik
ist Lebensstütze. [...] Der wahre Gegensatz ist der von Ethik und Ästhetik“ (ebd.,
696). Den „Grundgedanken“ N.s betrachtet Thomas Mann als einen Gedanken
„radikal ästhetischer Art“, der zugleich „in unversöhnlichen Gegensatz zu al-
lem Sozialismus geraten muß“: Seines Erachtens ist „Nietzsche [...] der voll-
kommenste und rettungsloseste Ästhet, den die Geschichte des Geistes kennt“
(ebd., 706). Und das radikale, vom Früh- bis zum Spätwerk reichende Verdikt
N.s über „den theoretischen Menschen“4 konterkariert Thomas Mann durch
die Feststellung: „aber er selbst ist dieser theoretische Mensch par excellence
und in Reinkultur, sein Denken ist absolute Genialität, unpragmatisch [bis]
zum Äußersten, bar jeder pädagogischen Verantwortung [...], es ist in Wahrheit
ohne Beziehung zum Leben“, dem auch in der Historienschrift „verteidigten,
über alles erhobenen“ Leben (ebd., 709). (Zur impliziten Rezeption von N.s WL
bei Thomas Mann vgl. Neymeyr 2013, 18-43).
Allerdings unterscheidet sich das N.-Bild Thomas Manns in diesem späten
Essay grundlegend vom Zuschnitt seiner antidemokratischen und zivilisations-
kritischen Betrachtungen eines Unpolitischen (1918), die schon in der Titelwahl
an die Unzeitgemässen Betrachtungen N.s erinnern. Wie das ebenfalls 1918 er-
schienene Buch Nietzsche. Versuch einer Mythologie von Ernst Bertram, der mit