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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,2): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0413
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Überblickskommentar, Kapitel 11.9: Problematische Aspekte 387

spannungsreichen Melange miteinander verbindet. Gerade die offene Gedan-
kenführung, die Synthese von Kulturkritik, Geschichtstheorie, Lebensphiloso-
phie und die rhetorische Stilisierung trugen zur ausgedehnten Rezeption von
UBII HL bei, so dass die Schrift weit über die Philosophie hinaus bis heute
zahlreiche historisch und kulturgeschichtlich interessierte Leser findet. Aller-
dings ergibt sich aus den heterogenen methodischen Annäherungen an die
Historismus-Problematik auch eine Diskontinuität der Darstellung, die dem po-
lyperspektivischen Duktus und der offenen Denkbewegung essayistischer Re-
flexion eher entspricht als der systematischen Strenge einer philosophischen
Abhandlung. Während die Historienschrift durch aufgelockerte Argumentation
und Gedankensprünge eine Verlebendigung erfährt, können apodiktisch prä-
sentierte Thesen zugleich ihre Plausibilität einschränken.

3. Das weite Bedeutungsspektrum der Terminologie
Gerade die für die gesamte Schrift zentralen Titelbegriffe ,Historie4 und ,Leben4
weisen ein besonders großes Spektrum möglicher Bedeutungen auf: Ange-
sichts der Heterogenität der Aspekte und der Vielfalt der Konnotationen lägen
definitorische Eingrenzungen nahe, auf die N. jedoch verzichtet. Zwar kann ein
relativ offen bleibendes Begriffsinstrumentarium mit kaum fixierten Termini
die Chance bieten, diese flexibel in wechselnden Argumentationskontexten zu
verwenden. Aber zugleich verstärkt sich dadurch auch das Risiko, dass bei den
Lesern Missverständnisse entstehen. Die Vermeidung terminologischer Festle-
gungen entspricht methodisch allerdings dem nicht systematisch-deduktiv or-
ganisierten Duktus der Historienschrift, mit dem N. gemäß dem Vorwort primär
eine kulturkritische Auseinandersetzung intendiert.
In auffälligem Maße changieren die in UB II HL entfalteten Vorstellungen
von ,Historie4: Aspekte der Vergangenheit können hier ebenso gemeint sein
wie Formen ihrer Aneignung und Transformation - etwa in Erinnerungskultu-
ren. Auch als Bezeichnung für Geschichtsbewusstsein oder historische Bildung
sowie für geschichtsphilosophische Konzepte oder sogar für die wissenschaftli-
che Disziplin der Geschichtsschreibung selbst lässt sich der Begriff ,Historie4
verwenden (vgl. Grätz 2012, 179). Schon Heidegger betont, dass N. in UB II HL
nicht zwischen „Geschichtswissenschaft, Historie und Geschichte44 differenziert
(Heidegger, Bd. 46, 2003, 9; zu Heideggers Rezeption von UB II HL vgl. eine
ausführliche Passage in Kapitel II.8).
Undefiniert bleibt in UB II HL über den Begriff ,Historie4 hinaus auch der
Begriff des ,Lebens4. Dementsprechend facettenreich ist jeweils der mögliche
Gehalt beider Begriffe. Im Hinblick auf,Leben4 orientiert sich N. an Grundten-
 
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