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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0414
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388 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

denzen von Schopenhauers Willensmetaphysik: Mit der Vorstellung des Le-
bens als dunkler, chaotischer Triebsphäre verbindet sich allerdings auch die
Gefahr eines Irrationalismus. Dass N. zwischen starkem und schwachem Leben
differenziert, erscheint insofern zeitgemäß, als hier deutliche Affinitäten zu vi-
talistischen Strömungen der Epoche und den Konzepten des Darwinismus so-
wie zum Decadence-Bewusstsein des fortgeschrittenen 19. Jahrhunderts her-
vortreten. N.s Vorstellung von ,Entartung4 evoziert jedoch die Frage, ob er
,Leben4 in seiner Historienschrift eo ipso als gesundes Leben verstanden wis-
sen will. Jede mögliche Antwort hat weitreichende Implikationen, die auch von
moralphilosophischer Relevanz sind.
4. Die Frage nach der Orientierungsfunktion von Geschichte:
Postulat der Stileinheit versus Chance kultureller Pluralität
Gedankensprünge und gewisse Inkonsistenzen in der Argumentation ergeben
sich in UBII HL daraus, dass N. die Historie einerseits zwar abwertet, sie ande-
rerseits aber entschieden zugunsten des Lebens zu funktionalisieren versucht
und ihr sogar die Aufgabe zuschreibt, die individuelle Tatkraft des Menschen
zu erhöhen. Dieses Grundkonzept zielt auf eine umfassende Instrumentalisie-
rung der Geschichte und bestimmt auch die markante, bei der Rezeption der
Historienschrift bis heute im Zentrum der Aufmerksamkeit stehende Typologie,
in der N. drei Formen des Umgangs mit der Geschichte voneinander unter-
scheidet: die monumentalische, antiquarische und kritische Historie. Darüber
hinaus empfiehlt sich allerdings eine Öffnung des Horizonts, um das produkti-
ve Potential der Geschichte auch außerhalb solcher strikten Funktionszuwei-
sungen in den Blick zu bekommen.
Im Anschluss an das pessimistische Geschichtskonzept Schopenhauers
und zugleich in Opposition zur optimistischen Teleologie und zum systemati-
schen Idealismus in Hegels Geschichtsphilosophie versteht N.,Historie4 als ein
diskontinuierliches Nacheinander von Begebenheiten (248, 21-23). Wenn sich
Geschichte allerdings in einer Reihe punktueller Momenterfahrungen verflüch-
tigt, die schwerlich als identitätsstiftend erlebt werden können, dann stellt sich
die Frage, worin gleichwohl eine Orientierungsfunktion der Geschichte liegen
kann und auf welche Weise die Beschäftigung mit ihr - gemäß N.s Postulat -
dem Leben dienen soll. Zudem gerät die Heterogenität historischer Prozesse
gemäß UB II HL in ein Spannungsverhältnis zu der von N. postulierten Homo-
genität der Kultur, die er in UB I DS und UB II HL als „Einheit des künstleri-
schen Stiles in allen Lebensäusserungen eines Volkes44 definiert (KSA 1,163, 3-
4; 274, 28-29). Unberücksichtigt bleiben dabei jedoch die besonderen Entwick-
lungschancen pluralistisch verfasster Kulturen.
 
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