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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0482
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456 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

Problematik lautet: „Demnach ist das historische Philosophiren von
jetzt ab nöthig und mit ihm die Tugend der Bescheidung“ (KSA 2, 25, 13-15).
Zuvor hebt er schon in UB III SE den Nutzen historischen Wissens für philoso-
phische Erkenntnis hervor und adaptiert in dieser Hinsicht nicht die pejorative
Perspektive Schopenhauers auf die Geschichte (vgl. dazu NK258, 25-26;
NK285, 23-26; NK292, 17-19; NK300, 3-9): Nach N.s Ansicht erleichtern
Geschichtskenntnisse dem Philosophen „ein gerechtes Urtheil“ über die
Menschen (KSA 1, 361, 4). Mit dieser Einschätzung antizipiert N. in UB III SE
tendenziell bereits seine spätere Ausrichtung auf ein historisches Philosophie-
ren4, das darauf zielt, durch genealogische Untersuchungen die Genese morali-
scher, religiöser, ästhetischer und kultureller Konzepte zu erschließen und da-
durch einen „Mangel an historischem Sinn“ (KSA 2, 24, 24-25) gerade zu
vermeiden (vgl. dazu Neymeyr 2012c, 84-96). Diese grundlegende Neuorientie-
rung, die sich in N.s Denken bereits seit Menschliches, Allzumenschliches aus-
prägt, macht später auch der Titel seiner Schrift Zur Genealogie der Moral evi-
dent. Dort erblickt N. den „Haupt-Gesichtspunkt der historischen Methodik“,
der dem „gerade herrschenden Instinkte und Zeitgeschmack“ widerstrebt, al-
lerdings darin, dass sich die „Grösse eines Fortschritts4 [...] nach der Masse
dessen“ bemisst, „was ihm Alles geopfert werden musste“; diese abstrakte
Aussage versucht er im Sinne seiner anti-egalitären Prinzipien zu konkretisie-
ren und zugleich provokativ zuzuspitzen: „die Menschheit als Masse dem
Gedeihen einer einzelnen stärkeren Species Mensch geopfert - das wäre
ein Fortschritt ...“ (KSA 5, 315, 14-21). Zuvor korreliert N. bereits in Menschli-
ches, Allzumenschliches II historische Perspektiven mit einem kulturanthropo-
logischen Telos, das er im „Streben nach Genialität der Menschheit im Ganzen“
erblickt: „Die vollendet gedachte Historie wäre kosmisches Selbstbewusstsein“
(KSA 2, 461, 6-8). Und in einem späten Nachlass-Notat aus dem Frühjahr 1888
erklärt N.: „Ich versuche auf meine Weise eine Rechtfertigung der Geschichte“
(NL 1888, 15 [63], KSA 13, 450). Zur Auffassung der „Historie“ als „vorzüglich-
ste[r] Lehrmeisterin“, die N. mit ausdrücklicher Berufung auf Polybios im 2. Ka-
pitel von UB II HL referiert (258, 20-21), vgl. ausführlicher NK 258, 19-21.
267, 10-17 Mit einiger Freiheit des Bildes gesprochen: Der Baum fühlt seine
Wurzeln mehr als dass er sie sehen könnte: dies Gefühl aber misst ihre Grösse
nach der Grösse und Kraft seiner sichtbaren Aeste. Mag der Baum schon darin
irren: wie wird er erst über den ganzen Wald um sich herum im Irrthum sein! von
dem er nur soweit etwas weiss und fühlt als dieser ihn selbst hemmt oder selbst
fördert - aber nichts ausserdem.] N.s Freund Erwin Rohde nimmt am 24. März
1874 brieflich auf diesen Passus Bezug und geht darüber hinaus kritisch auf
den Stil N.s überhaupt ein, dem beim Bilderreichtum seiner Sprache auch Ka-
tachresen unterlaufen. - Wie sehr N. das kritische Urteil Erwin Rohdes zu
 
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