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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0483
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Stellenkommentar UB II HL 3, KSA 1, S. 267 457

schätzen weiß, zeigt nicht nur sein nachdrücklicher Dank für Rohdes Korrektu-
ren zu UB II HL (KSB 4, Nr. 346, S. 201), sondern auch seine Bitte: „sage mir
doch mit Härte und Kürze Fehler Manieren und Gefahren meiner Darstellung -
denn darin genüge ich mir nicht und erstrebe etwas ganz Anderes“ (KSB 4,
Nr. 346, S. 202). - Rohde erfüllt N. diesen Wunsch, indem er sich in seinem
Brief vom 24. März 1874 mit dem Duktus der Historienschrift auseinandersetzt
und sowohl N.s sprunghaften Stil als auch die Inkonsistenzen und die fehlende
Stringenz in seiner Argumentation kritisiert, durch welche die Rezeption seiner
„Bücher“ beeinträchtigt werde: „Du deducirst allzu wenig, sondern überläs-
sest dem Leser mehr als billig und gut ist, die Brücken zwischen deinen Ge-
danken und Sätzen zu finden“ (KGB II4, Nr. 525, S. 421).
Außer einem Mangel an gedanklicher Kohärenz attestiert Rohde N. vor al-
lem eine Tendenz zu Katachresen: „Noch einen Fehler habe ich zu rügen. Du
verfolgst, so scheint mir, nicht ganz glückliche, oft recht stark hinkende Bil-
der, zuweilen weiter, als für ihre Wirkung ersprießlich ist. Z. B. das Bild vom
Baum p. 30“ (KGB II4, Nr. 525, S. 422). - Eine derartig forcierte Neigung zu
metaphorischer Diktion erklärt sich Rohde als kompensatorischen Reflex, der
ausgleichen soll, „wie grau, abstract, bildlos unsre Sprache und Ausdruckswei-
se“ im Laufe ihrer historischen Entwicklung geworden ist (ebd.). Eine weitere
Ursache dafür sieht er im Einfluss „der wissenschaftlichen Prosa“ (ebd.).
Und er fährt fort: „Sonst rühme ich gerade an deinem Stil die Fülle, oder, mit
einem Roastbeaf-bilde, die Saftigkeit des in sich noch bilderreichen Aus-
drucks [...]. Nur im Durchfugiren wirklicher Bilder thust Du oft zu viel“
(KGB II4, Nr. 525, S. 423). - Zu N.s Stil (und Rohdes Kritik) vgl. auch Kapitel
II.5 im Überblickskommentar.
267,17-22 Der antiquarische Sinn eines Menschen, [...] eines ganzen Volkes hat
immer ein höchst beschränktes Gesichtsfeld; das Allermeiste nimmt er gar nicht
wahr, und das Wenige, was er sieht, sieht er viel zu nahe und isolirt; er [...] nimmt
deshalb alles als gleich wichtig und deshalb jedes Einzelne als zu wichtig.] In
UB IIISE entfaltet N. eine ausführliche Gelehrtensatire, in der er einen
defizitären Wissenschaftler-Typus auf analoge Weise charakterisiert: durch
„Scharfsichtigkeit in der Nähe, verbunden mit grosser Myopie für die Ferne
und das Allgemeine“: Das „Gesichtsfeld“ sei bei einem solchen Menschen „ge-
wöhnlich sehr klein, und die Augen müssen dicht an den Gegenstand herange-
halten werden. Will der Gelehrte von einem eben durchforschten Punkte zu
einem andern, so rückt er den ganzen Seh-Apparat nach jenem Punkte hin. Er
zerlegt ein Bild in lauter Flecke“, die er aber „nie verbunden“ sieht, so dass er
„ihren Zusammenhang“ lediglich erschließen kann; „deshalb hat er von allem
Allgemeinen keinen starken Eindruck. Er beurtheilt zum Beispiel eine Schrift,
 
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