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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0484
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458 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

weil er sie im Ganzen nicht zu übersehen vermag, nach einigen Stücken oder
Sätzen oder Fehlern“ (KSA 1, 395, 32 - 396, 11).
Beeinflusst ist N.s kritische Auseinandersetzung mit dem „antiquarische[n]
Sinn“ im Rahmen der Historienschrift durch die Geschichtsskepsis Schopen-
hauers, der in der Welt als Wille und Vorstellung die Philosophie gegen gelehr-
tes Spezialistentum ausspielt und massive Vorbehalte gegenüber historischen
Darstellungen formuliert. Da die Geschichte anstelle einer systematischen
„Subordination“ von Einzelphänomenen lediglich eine „Koordination“ von De-
tails vollzieht, kommt durch sie laut Schopenhauer bloß eine Ansammlung von
Wissenselementen zustande, aber keine Wissenschaft (vgl. WWVI, § 14, Hü 75;
WWV II, Kap. 38, Hü 502, 505).
Den Gegensatz zwischen der nach seiner Auffassung über allen Wissen-
schaften stehenden Philosophie, die „das allgemeinste und deshalb wichtigste
Wissen“ biete, und der Historie, der sogar der „Grundcharakter der Wissen-
schaft“ fehle, weil es „kein System der Geschichte“ gebe (WWV II, Kap. 38,
Hü 502), begründet Schopenhauer damit, dass sich das historische Interesse
auf individuelle, vielgestaltige, aber vergängliche und überdies niemals voll-
ständig zu erfassende Erscheinungen des menschlichen Lebens richte. Die His-
torie zeige dabei kaleidoskopartig stets dasselbe, wenn auch in unterschiedli-
chen Konfigurationen; zudem beschränke sie sich auf bloße Empirie. Die
Philosophie hingegen konzentriere sich auf die Ideen als das Wesentliche, Blei-
bende (vgl. WWV I, § 35, Hü 215 sowie WWV II, Kap. 38, Hü 504-508).
Nach Schopenhauers Auffassung ist die Geschichte „zwar ein Wissen, je-
doch keine Wissenschaft. Denn nirgends erkennt sie das Einzelne mittelst des
Allgemeinen, sondern muß das Einzelne unmittelbar fassen und so gleichsam
auf dem Boden der Erfahrung fortkriechen; während die wirklichen Wissen-
schaften darüber schweben, indem sie umfassende Begriffe gewonnen haben,
mittelst deren sie das Einzelne beherrschen“ (WWV II, Kap. 38, Hü 502). Hinzu
komme, „daß die Wissenschaften sämmtlich von Dem reden, was immer ist;
die Geschichte hingegen von Dem, was nur Ein Mal und dann nicht mehr ist“
(ebd.). - „Die Philosophie“ hingegen sei „eine Summe sehr allgemeiner Urthei-
le [...], deren Erkenntnißgrund unmittelbar die Welt selbst in ihrer Gesammt-
heit ist“ (WWV I, § 15, Hü 98). Die Fragwürdigkeit einer lediglich historischen
Betrachtung charakterisiert Schopenhauer mit der polemischen Bemerkung,
„daß die Geschichtsmuse Klio mit der Lüge so durch und durch inficirt ist, wie
eine Gassenhure mit der Syphilis. Die neuere kritische Geschichtsforschung
müht sich zwar ab, sie zu kuriren, bewältigt aber mit ihren lokalen Mitteln
bloß einzelne, hie und da ausbrechende Symptome; wobei noch dazu manche
Quacksalberei mit unter läuft, die das Uebel verschlimmert“ (PP II, Kap. 19,
§ 233, Hü 476).
 
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