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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0506
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480 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

279, 30-33 Noch ist der Krieg nicht beendet, und schon ist er in bedrucktes
Papier hunderttausendfach umgesetzt, schon wird er als neuestes Reizmittel dem
ermüdeten Gaumen der nach Historie Gierigen vorgesetzt.] Diese von N. mit kriti-
schem Unterton beschriebene produktive Dynamik des Journalismus, der sich
geschichtlicher Ereignisse sofort bemächtigt, um der Sensationsgier des Lese-
publikums Rechnung zu tragen, zeigt Affinitäten zum modernen Medienzeital-
ter der Gegenwart: Denn hier werden historische Begebenheiten gleichfalls zu
Waren verdinglicht, die den Rezipienten den Erlebniseffekt imaginärer Augen-
zeugenschaft verschaffen sollen. Zur Aktualität von N.s Diagnose auch im
21. Jahrhundert vgl. die analoge, allerdings auf die Gegenwart bezogene Fest-
stellung von Jacques Le Rider: „Die Geschichte ist im Zeitalter der globalisier-
ten Medien zur ,histoire immediate4 geworden, zur unmittelbaren Geschichte;
die Verwandlung von Ereignis in Geschichte ist nunmehr augenblicklich. Unse-
re Gegenwart ist als Gegenwart schon historisch“ (Le Rider 2001, 97). Die schon
von N. konstatierte mediale Beschleunigung fördert in der Kultur zugleich eine
Innovationsdynamik, die das Aktuelle schneller veralten lässt und dadurch zur
immer rascheren Ablösung avantgardistischer Strömungen führt. Zur Zeitstruk-
tur solcher Beschleunigung im Laufe der Kulturgeschichte vgl. die grundlegen-
den Erkenntnisse in Reinhart Kosellecks Buch Vergangene Zukunft. Zur Seman-
tik geschichtlicher Zeiten (1979).
280, 4-5 es gelingt euch nicht mehr das Erhabene festzuhalten] Das Erhabene
gehörte zu den programmatischen Idealvorstellungen Wagners, die N. schon
für seine Geburt der Tragödie adaptierte. Hierzu und zur Geschichte der ästheti-
schen Kategorie des ,Erhabenen4 vgl. NK 1/1, 60-62.
280, 12-13 in dem Sinne, in dem Schiller von dem Verstand der Verständigen
redet] Hier spielt N. auf die dritte Strophe in Friedrich Schillers Gedicht Die
Worte des Glaubens an (Schiller: FA, Bd. 1, 23):
„Und die Tugend, sie ist kein leerer Schall,
Der Mensch kann sie üben im Leben,
Und sollt er auch straucheln überall,
Er kann nach der Göttlichen streben,
Und was kein Verstand der Verständigen sieht,
Das übet in Einfalt ein kindlich Gemüt.“
Mit der auffälligen Figura etymologica „Verstand der Verständigen“ griff Schil-
ler seinerseits auf die Bibel zurück, und zwar auf den 1. Korintherbrief 1, 19:
„Denn es steht geschrieben: ,Ich will zunichte machen die Weisheit der Wei-
sen, und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen4“ (vgl. Jesaja 29,
14). Im Folgenden expliziert N. die Aussagen Schillers und pointiert seine Dar-
stellung dabei erneut mithilfe der Figura etymologica, indem er über den „Ver-
 
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