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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0507
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Stellenkommentar UB II HL 5, KSA 1, S. 279-281 481

ständigen“ schreibt: „weil er dies nicht versteht, ist sein Verstehen kindischer
als das Kind und einfältiger als die Einfalt“ (280, 15-17).
280, 34 affichiren] In wörtlichem Sinne bedeutet ,affichieren‘: etwas durch ei-
nen öffentlichen Anschlag oder Aushang bekanntgeben. Und in übertragenem
Sinne ist damit gemeint: etwas zur Schau stellen.
281,11-12 Die historische Bildung und der bürgerliche Universal-Rock herrschen
zu gleicher Zeit.] N. spielt hier auf den um 1860 in England aufgekommenen
Sakko an, einen Typus der Jacke, der sich bald überall verbreitete. In älterer
Zeit hatte jeder Stand eine eigene Kleiderordnung; so unterschied man sich
von den Angehörigen der anderen Stände. Eduard von Hartmann schreibt in
seiner Philosophie des Unbewußten. Versuch einer Weltanschauung (1869), die
N. im 9. Kapitel der Historienschrift attackiert: „So werden die Genies immer
weniger Bedürfniss, und daher auch immer weniger vom Unbewußten geschaf-
fen; wie die Gesellschaft durch den schwarzen Bürgerrock nivellirt ist, so steu-
ern wir auch in geistiger Beziehung mehr und mehr auf eine Nivellirung zur
gediegenen Mittelmässigkeit hin“ (618). Schon Alexis de Tocqueville hatte in
seinem Werk De la democratie en Amerique, das auch N. zur Kenntnis nahm,
eine derartige Entwicklung diagnostiziert.
281,19-20 als Wächter des grossen geschichtlichen Welt-Harem ein Geschlecht
von Eunuchen] Eunuchen sind kastrierte Männer. In der Zeit des europäischen
Rokoko erlangten Eunuchen als Sänger mit vorpubertärer Stimmlage Bekannt-
heit. Im Orient fanden die zeugungsunfähigen Eunuchen als Wächter über die
Frauen im Harem Verwendung. N. gebraucht diese metaphorische Vorstellung
von Unfruchtbarkeit im vorliegenden Kontext, um verschiedene Modi des Um-
gangs mit der Historie zu kontrastieren: Eine sterile Reproduktion von „Ge-
schichten“ als Resultat von Historie, die dann gerade „kein Geschehen“ ermög-
licht (281, 23), schreibt N. den zeitgenössischen kraftlosen Schwundformen des
Menschen zu. Dieser defizitären Weise des Umgangs mit der Historie stellt er
als positive Alternative den Typus einer „freien Persönlichkeit“ gegenüber (281,
13), die zu authentischem Engagement und zur Wahrhaftigkeit „in Wort und
That“ in der Lage ist und dadurch „das innere Elend des modernen Menschen“
evident werden lässt (281, 24-28).
281, 28-30 an die Stelle jener ängstlich versteckenden Convention und Maske-
rade können dann, als wahre Helferinnen, Kunst und Religion treten] In Überein-
stimmung mit seinem Basler Kollegen Franz Overbeck weist N. noch in der
Geburt der Tragödie auf „unsere blassen und ermüdeten Religionen“ hin, „die
selbst in ihren Fundamenten zu Gelehrtenreligionen entartet sind“ (KSA 1, 117,
26-28). In mehreren Notaten aus dieser Zeit bezeichnet er die Religion als mitt-
 
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