Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0541
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar UB II HL 7, KSA 1, S. 297-298 515

Die Meistersinger von Nürnberg von 1868, die zu N.s ersten, musikalisch prä-
genden Erfahrungen mit Wagners Musik gehörte, heißt es: „jetzt schaun wir,
wie Hans Sachs es macht, / daß er den Wahn fein lenken mag, / ein edler Werk
zu tun; / denn läßt er uns nicht ruhn, / selbst hier in Nürenberg, / so sei’s um
solche Werk’, / die selten vor gemeinen Dingen, / und nie ohn’ ein’gen Wahn
gelingen. -“ Schon im Oktober 1868 beschreibt N. sein Hörerlebnis während
der „Ouvertüre zu den Meistersingern“ bei einem Konzert emphatisch: „ich
habe lange nicht ein solches andauerndes Gefühl der Entrücktheit gehabt“
(KSB 2, Nr. 596, S. 332). Und wenig später ist er bei seiner ersten Begegnung
mit Wagner am 8. November 1868 beeindruckt von dessen schauspielerhaftem
Unterhaltungstalent, weil dieser „alle wichtigen Stellen der Meistersinger“
spielte und dabei „alle Stimmen imitirte“ (KSB 2, Nr. 599, S. 340). Die Oper Die
Meistersinger von Nürnberg ist für N. dann auch das erste Werk Wagners, des-
sen komplette Aufführung er am 21. Januar 1869 in Dresden erlebt.
Bereits im 1. Kapitel der Geburt der Tragödie zitiert N. aus dieser Oper
(KSA 1, 26,15-20), und zwar ebenfalls die Verse, die den „Wahn“ thematisieren
und dem Part des Hans Sachs zugeordnet sind. In einem nachgelassenen Notat
aus der Entstehungszeit der Historienschrift zitiert N. die ,Wahn‘-Worte des
Hans Sachs aus den Meistersingern vollständig. Dabei expliziert N. die Bedeu-
tung des Wahns für das „Leben“ und für dessen Verhältnis zur „Historie“, in-
dem er ,Wahn‘ positiv als „productive Stimmung“ interpretiert: „Nehmen wir
an, die historische Untersuchung vermöchte in Betreff von etwas Lebendigem
die Wahrheit zu erreichen, z. B. in Betreff des Christenthums: dann hätte sie
jedenfalls den Wahn zerstört, der um alles Lebendige und Thätige, wie eine
Atmosphaere, sich breitet, - nämlich / ,bei allen grossen Dingen, / ,die nie
ohn’ einigen Wahn gelingen/ / Man hätte durch die Beseitigung des Wahns,
z. B. in Betreff der Religion, die Religiosität bei sich selbst, d. h. die productive
Stimmung, zerstört und hätte ein kaltes leeres Wissen, nebst dem Gefühle der
Enttäuschung in den Händen zurück behalten“ (NL 1873, 29 [88], KSA 7, 670-
671).
298, 28 einen solchen umhüllenden Wahn] Welche wichtige Funktion N. dem
„umhüllenden Wahn“ im Zusammenhang mit seiner Historismus-Kritik zu-
schreibt, zeigt der nähere Kontext der Stelle. Denn hier wird deutlich, dass N.
ein solches geheimnisvolles Fluidum als notwendige Voraussetzung für eine
lebendige Existenz und darüber hinaus auch für die Entstehung von Kreativität
betrachtet: „Alles Lebendige“, „jedes Volk, ja jeder Mensch“ benötige eine der-
artige „Atmosphäre“ (298, 18, 27); vor allem gelte dies für den „schaffende[n]
Instinct“ (296, 4). Da ein Übermaß historischen Wissens die „pietätvolle Illusi-
ons-Stimmung“ (296, 11) eines solchen ,umhüllenden Wahns4 gefährde, werde
dadurch zugleich die freie Entfaltung des Lebens und die Fähigkeit zu enga-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften