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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0542
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516 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

gierter Zukunftsgestaltung in Frage gestellt. Zur Relation zwischen N.s Vorstel-
lung des ,umhüllenden Wahns4 und der plastischen Kraft4 in UBII HL vgl.
Kittsteiner 1996, 48-75. Kittsteiner bezieht in seine kritischen Reflexionen auch
den Stellenwert von Erinnern und Vergessen in UB II HL mit ein. Außerdem
berücksichtigt er das Verhältnis zwischen der Geschichtswissenschaft und Tra-
ditionen der Geschichtsphilosophie, etwa bei Kant, Hegel und Heidegger.
299, 3-9 Aber es soll auch gar nicht, wie gesagt, das Zeitalter der fertig und reif
gewordenen, der harmonischen Persönlichkeiten sein, sondern das der gemeinsa-
men möglichst nutzbaren Arbeit. Das heisst eben doch nur: die Menschen sollen
zu den Zwecken der Zeit abgerichtet werden, um so zeitig als möglich mit Hand
anzulegen; sie sollen in der Fabrik der allgemeinen Utilitäten arbeiten] Zur Fab-
rik-Metaphorik, die N. von Schopenhauer übernimmt, vgl. auch NK 300, 25-29
und NK 338, 5-7. Auf die Entfaltung von „harmonischen Persönlichkeiten44 legt
N. später auch in UB III SE großen Wert: Dort hebt er im 2. Kapitel ausdrücklich
„die harmonische Ganzheit und den vielstimmigen Zusammenklang in Einer
Natur“ hervor (KSA 1, 342, 26-27). Und in Abwägung verschiedener zeitgenös-
sischer Erziehungsmaximen (vgl. KSA 342, 7 - 343, 4) sieht er die Aufgabe des
,,erziehende[n] Philosoph [en]44 darin, „den ganzen Menschen zu einem leben-
dig bewegten Sonnen- und Planetensysteme umzubilden“ (KSA 1, 343, 2-7).
Zu diesem Ideal sieht N. den Status quo der zeitgenössischen Erziehungs-
und Bildungsinstitutionen in diametralem Gegensatz, und zwar nicht allein in
den Unzeitgemässen Betrachtungen. Über UB II HL und UB III SE hinaus pro-
longiert sich seine kritische Zeitdiagnose diesbezüglich bis in die Götzen-
Dämmerung. Dort profiliert N. seine Aussage mit derselben symptomatischen
Metaphorik wie im vorliegenden Kontext von UB II HL: Indem er in der Götzen-
Dämmerung ebenfalls die Vorstellung von ,Nutzbarkeit4 mit,Abrichtung4 korre-
liert, spielt er auf bloße Tierdressur an, um das rein Instrumentelle einer von
heteronomen Zwecken bestimmten Ausbildung zu betonen, und zwar im Ge-
gensatz zum Sonderstatus autonomer Bildung als Selbstentfaltung gemäß
UB III SE 1 (vgl. dazu KSA 1, 338-341): Anstelle genuiner Bildung dient laut
N. „eine brutale Abrichtung“ lediglich dem Zweck, „mit möglichst geringem
Zeitverlust, eine Unzahl junger Männer für den Staatsdienst nutzbar, aus-
nutzbarzu machen“ (KSA 6, 107, 21-24). Er selbst hält Depravationen dieser
Art seine geistesaristokratische Überzeugung entgegen: ,„Höhere Erziehung4
und Unzahl - das widerspricht sich von vornherein. Jede höhere Erziehung
gehört nur der Ausnahme: man muss privilegirt sein, um ein Recht auf ein
so hohes Privilegium zu haben. Alle grossen, alle schönen Dinge können nie
Gemeingut sein: pulchrum est paucorum hominum“ (KSA 6, 107, 24-29).
Im vorliegenden Textzusammenhang von UB II HL sind Grundtendenzen
einer Zeitdiagnose zu erkennen, die schon in Goethes Wilhelm-Meister-Roma-
 
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