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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0540
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514 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

86-88). Angesichts dieser aporetischen Konstellation wende der Theologe
Overbeck sein Interesse dann vorrangig den historischen Manifestationen von
Religiosität in den asketischen Zielsetzungen von Anachoreten- und Mönchs-
tum zu (ebd., 88). Insofern ziehen N. und Overbeck in ihren jeweils spezifi-
schen Arbeitsfeldern unterschiedliche Konsequenzen aus dem Historismus,
allerdings auf der Basis übereinstimmender Urteile über die wissenschaftstheo-
retische Ausgangsproblematik.
297, 33 - 298, 7 Es giebt Menschen, die an eine umwälzende und reformirende
Heilkraft der deutschen Musik unter Deutschen glauben: sie [...] halten es für ein
Unrecht, begangen am Lebendigsten unserer Cultur, wenn solche Männer wie
Mozart und Beethoven bereits jetzt mit dem ganzen gelehrten Wust des Biogra-
phischen überschüttet und mit dem Foltersystem historischer Kritik zu Antworten
auf tausend zudringliche Fragen gezwungen werden.] Implizit nimmt N. hier -
durchaus affirmativ - vor allem auf Richard Wagner Bezug. Dieser verstand
seine eigenen Kompositionen, die N. hier als die ,deutsche Musik4 bezeichnet,
als revolutionäre („umwälzende“) und reformierende Kulturtat. N. folgt der
Selbsteinschätzung Wagners: Bereits in seiner Tragödienschrift erblickt er in
der „deutschen Musik“ Wagners (KSA 1, 128, 17) eine „Wiedergeburt“ der
griechischen Tragödie (KSA 1, 103, 13-14) und meint, durch diesen Sondersta-
tus komme Wagners Musik eine fundamentale Bedeutung für die moderne Kul-
tur überhaupt zu. Insofern hält N. den Komponisten für einen Reformator. In
UB IV WB pointiert N. diese Vorstellung so: „Man erwartet von ihm eine Refor-
mation des Theaters: gesetzt, dieselbe gelänge ihm, was wäre denn damit [...]
gethan? / Nun, damit wäre der moderne Mensch verändert und reformirt“
(KSA 1, 448, 4-8).
Ähnlich wie Wagner selbst steht auch N. der verbreiteten positivistischen
Reduktion großer Komponisten aufgrund von Biographie oder „historischer
Kritik“ skeptisch gegenüber. Exemplarisch nennt er hier Mozart und Beetho-
ven. In seinen theoretischen Schriften hatte sich allerdings auch Wagner be-
reits auf diese Bahn begeben, etwa mit seiner Festschrift Beethoven (1870) zum
100. Geburtstag des Komponisten. Und auch N. lässt sich gerade in UB IV WB
intensiv auf das Feld des biographischen4 ein, das er im vorliegenden Kontext
von UB II HL kritisch bewertet.
298, 15 actio in distans] Der lateinische Ausdruck bedeutet: Fernwirkung. Er
setzt sich zusammen aus ,actio4 (Handlung) und ,distans4 (getrennt, entfernt).
Gemeint ist demnach eine Handlung, die Wirkung in der Ferne oder auf Entfer-
nung erzielt.
298, 23-26 So ist es nun einmal bei allen grossen Dingen, / „die nie ohn’ ein’gen
Wahn gelingen“, / wie Hans Sachs in den Meistersingern sagt.] In Wagners Oper
 
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