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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0582
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556 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

von Neuem zu wollen, als die Zeit enden oder anfangen kann: eine dauernde,
sein Streben vollständig und auf immer befriedigende Erfüllung giebt es für
ihn nicht. Er ist das Faß der Danaiden“ (WWVI, § 65, 428).
318,16-20 Wenn aber trotzdem der Ekel mit Macht kommen sollte, so wie du
ihn deinen Lesern prophezeit hast, wenn du mit deiner Schilderung deiner Gegen-
wart und Zukunft Recht behalten solltest - und Niemand hat beide so verachtet,
so mit Ekel verachtet als du] Zwar greift N. mit dem Begriff „Ekel“ nicht direkt
auf Eduard von Hartmann zurück, wohl aber zieht er damit Konsequenzen aus
einigen Partien in seiner Philosophie des Unbewußten.
319, 3-4 mit dem ganzen Heerbanne satirischer Bosheiten vorzurücken] Der
hier metaphorisch verwendete Begriff ,Heerbann4 bezeichnet ein vom König
aufgebotenes Heer.
319,12 Vermessenheit des kleinen Menschengewürms] Jacob Grimms und Wil-
helm Grimms Deutsches Wörterbuch weist das Lemma Menschengewürm mit
zwei Belegen nach (vgl. Deutsches Wörterbuch, Bd. 12, 1885, Sp. 2051). - Zu-
dem ist im vorliegenden Kontext eine implizite Bezugnahme auf Goethes Dra-
ma Faust I zu vermuten, auf das N. in den Unzeitgemässen Betrachtungen wie-
derholt anspielt. Wenn er Faust /in UB IIISE sogar zum Anlass für Reflexionen
über den „Goetheschen Menschen“ als Typus nimmt (KSA 1, 370, 10), rückt er
fundamentale Ambivalenzen der Faust-Figur im Spannungsfeld von vermesse-
nem Anspruch und defizitärer Wirklichkeit in den Fokus (vgl. KSA 1, 370, 10 -
371, 17). Bezeichnenderweise wird menschliche Hybris in Faust I mehrfach
durch die Konfrontation mit der bloßen animalischen Natur problematisiert;
dabei vergleicht sich der Protagonist selbst mit einem „Wurme“: In der Szene
,Nacht4 erfährt Faust nach dem hybriden Aufschwung, den er zunächst durch
die Vision des Makrokosmos und des Erdgeistes erlebt hat, eine fundamentale
Desillusionierung: „Den Göttern gleich’ ich nicht! Zu tief ist es gefühlt; / Dem
Wurme gleich’ ich, der den Staub durchwühlt“ (V. 652-653). Und in der Szene
,Studierzimmer4 spricht Mephisto despektierlich vom „verdammten Zeug, der
Tier- und Menschenbrut“ (V. 1369). Die Vermessenheit des Menschen kritisiert
er im ,Prolog im Himmel4, wenn er ihn als ,,kleine[n] Gott der Welt“ kraft seiner
„Vernunft“ sogar „tierischer als jedes Tier“ agieren sieht (V. 281-286).
319,18-20 ich weiss keinen besseren Lebenszweck als am Grossen und Unmög-
lichen, animae magnae prodigus, zu Grunde zu gehen] Die lateinische Wendung
bedeutet: „die grosse Seele verschwendend“. Thematisiert wird damit das tra-
gische Schicksal heroischer Entgrenzung ohne Rücksicht auf die für die Nor-
malexistenz konstitutive Selbsterhaltung. N. zitiert aus einer Ode des Horaz
(vgl. carmina I, 12, V. 37-38): In dieser Ode werden die Heroen der römischen
 
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