14 Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne
Einfluss auf N.s sprachtheoretische Überlegungen hatten außerdem Fried-
rich Max Müllers Vorlesungen über die Wissenschaft der Sprache (2 Bde., Leipzig
1863-1866), die sich N. am 17. November 1869 aus der Basler Universitätsbiblio-
thek entlieh. Müller, Komparatist und Religionshistoriker, entwirft in seinen
Vorlesungen ein Studium der Sprache, das Aufschlüsse über Wahrnehmungs-
weisen und kulturelle Konstruktionen geben kann (vgl. NK 884, 23-28). Inso-
fern er Sprache und Denken untrennbar verbunden sieht, ist (in Anlehnung an
Kant) eine radikale Sprachkritik für Müller wie schon für Gerber die Bedingung
für jede andere Wissenschaft, die sich auf sicherem Fundament wissen will
(vgl. Zavatta 2009; zur Metapher bei Müller und N. vgl. schon Schacht 1901,
95-96, vgl. Kr II, 1).
4 Struktur und Konzeption
Wenn das Motivgewebe von WL auch dicht geknüpft ist, so fallen bei näherer
Betrachtung immer wieder Nahtstellen im Übergang der Gedanken und im
Wechsel der sprachlichen Register auf, die dem Text an mancher Stelle den
Charakter einer Collage geben. Die zahlreichen mit WL oft bis in den Wortlaut
hinein identischen Nachlass-Notate zeigen, wie N. aus einem Fundus von Ge-
danken und Argumenten wählt, die er in immer neuen Formulierungen variiert
und erprobt. Manches Bild in WL stellt die verdichtete Fassung eines Gedan-
kens dar, dessen Genese sich in den WL begleitenden Notizen nachverfolgen
lässt. Das bedeutet jedoch nicht, dass WL als Kondensat allmählich herange-
reifter, ansonsten aber verstreuter Gedankensplitter zu lesen wäre. WL besitzt
eine vielstrebige Architektur, die freilich eine eigene Logik voller doppelter Bö-
den besitzt, Fragen bisweilen ins Leere gehen lässt oder vermeintlich grundle-
gende Konzepte, wie die Erklärungsschemata der Wissenschaft, als haltlos,
nämlich als Spiel der regellosen Übertragungsleistung des Menschen erweist.
Der Text ist in zwei Kapitel gegliedert. Der erste Abschnitt nimmt den weit-
aus größeren Raum ein und formuliert die Hauptthese, die aus der Schutzbe-
dürftigkeit des Menschen resultierende Sprachgesetzgebung gebe die Gesetze
auch der als objektiv geglaubten Wahrheit. Ein zweiter Teil führt aus, wie in
Wissenschaft und Kunst trotz aller Konvention ein Wahrheitstrieb und ein me-
taphorischer Fundamentaltrieb im Menschen ineinandergreifen. Diesen Aus-
führungen entspricht in der Darstellung eine Verflechtung von kühnen Meta-
phern und Formeln, die verschiedenen Wissenschaftsbereichen (Sinnesphy-
siologie, Sprachwissenschaft, Psychologie, evolutionistische Anthropologie)
entlehnt sind. Neben dem philosophischen Gehalt des Textes besitzt die Form
der Darstellung eine besondere Relevanz und verleiht der Schrift den span-
Einfluss auf N.s sprachtheoretische Überlegungen hatten außerdem Fried-
rich Max Müllers Vorlesungen über die Wissenschaft der Sprache (2 Bde., Leipzig
1863-1866), die sich N. am 17. November 1869 aus der Basler Universitätsbiblio-
thek entlieh. Müller, Komparatist und Religionshistoriker, entwirft in seinen
Vorlesungen ein Studium der Sprache, das Aufschlüsse über Wahrnehmungs-
weisen und kulturelle Konstruktionen geben kann (vgl. NK 884, 23-28). Inso-
fern er Sprache und Denken untrennbar verbunden sieht, ist (in Anlehnung an
Kant) eine radikale Sprachkritik für Müller wie schon für Gerber die Bedingung
für jede andere Wissenschaft, die sich auf sicherem Fundament wissen will
(vgl. Zavatta 2009; zur Metapher bei Müller und N. vgl. schon Schacht 1901,
95-96, vgl. Kr II, 1).
4 Struktur und Konzeption
Wenn das Motivgewebe von WL auch dicht geknüpft ist, so fallen bei näherer
Betrachtung immer wieder Nahtstellen im Übergang der Gedanken und im
Wechsel der sprachlichen Register auf, die dem Text an mancher Stelle den
Charakter einer Collage geben. Die zahlreichen mit WL oft bis in den Wortlaut
hinein identischen Nachlass-Notate zeigen, wie N. aus einem Fundus von Ge-
danken und Argumenten wählt, die er in immer neuen Formulierungen variiert
und erprobt. Manches Bild in WL stellt die verdichtete Fassung eines Gedan-
kens dar, dessen Genese sich in den WL begleitenden Notizen nachverfolgen
lässt. Das bedeutet jedoch nicht, dass WL als Kondensat allmählich herange-
reifter, ansonsten aber verstreuter Gedankensplitter zu lesen wäre. WL besitzt
eine vielstrebige Architektur, die freilich eine eigene Logik voller doppelter Bö-
den besitzt, Fragen bisweilen ins Leere gehen lässt oder vermeintlich grundle-
gende Konzepte, wie die Erklärungsschemata der Wissenschaft, als haltlos,
nämlich als Spiel der regellosen Übertragungsleistung des Menschen erweist.
Der Text ist in zwei Kapitel gegliedert. Der erste Abschnitt nimmt den weit-
aus größeren Raum ein und formuliert die Hauptthese, die aus der Schutzbe-
dürftigkeit des Menschen resultierende Sprachgesetzgebung gebe die Gesetze
auch der als objektiv geglaubten Wahrheit. Ein zweiter Teil führt aus, wie in
Wissenschaft und Kunst trotz aller Konvention ein Wahrheitstrieb und ein me-
taphorischer Fundamentaltrieb im Menschen ineinandergreifen. Diesen Aus-
führungen entspricht in der Darstellung eine Verflechtung von kühnen Meta-
phern und Formeln, die verschiedenen Wissenschaftsbereichen (Sinnesphy-
siologie, Sprachwissenschaft, Psychologie, evolutionistische Anthropologie)
entlehnt sind. Neben dem philosophischen Gehalt des Textes besitzt die Form
der Darstellung eine besondere Relevanz und verleiht der Schrift den span-