58 Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne
1/4, 62[18], 555). Es zeigt sich: „Das Dasein ist mit Wundern durchlöchert"
(KGW 1/4, 62[18], 555). Diese Brüche vermögen Staunen und „Misstrauen gegen
den Idealismus" (885, 29) zu erregen.
885, 23-27 Also verweisen alle diese Relationen immer nur wieder auf einander
und sind uns ihrem Wesen nach unverständlich durch und durch; nur das, was
wir hinzubringen, die Zeit, der Raum, also Successionsverhältnisse und Zahlen
sind uns wirklich daran bekannt.] N. übt implizite Kritik am kategorieilen Sche-
ma der transzendentalen Logik Kants, das die Möglichkeitsbedingungen von
Erkenntnis festschreibt. Indem N. in WL die Sprache nicht nur als Ausdrucks-
medium der Logik thematisiert, sondern auch als prälogische Voraussetzung
jeder Art von epistemologischer Operation, sucht er die Logik als rein anthro-
pomorphen Begriff zu enttarnen: „Die Logik ist nur die Sklaverei in den Ban-
den der Sprache. Diese aber hat ein unlogisches Element in sich, die Metapher
usw." (NL 1873, KSA 7, 29[8], 625, 23-25). Folglich sind ihm Kants Kategorien
samt ihren Begriffen, das sind vor allem „Zeit Raum und Kausalität [...] nur
Erkenntnißmetaphern, mit denen wir die Dinge uns deuten" (NL 1872/73,
KSA 7, 19[210], 484, 8-9). Für N. sind Kants a priori geltende Kategorien aber
nicht nur anthropomorphe Kategorienkonstrukte, er zeigt auch die Implikatio-
nen dieser Begriffe auf, die über ihren ontologischen Gehalt hinwegtäuschen.
Da sie letztlich in einem physischen Defizit des Menschen wurzeln, sind sie
eben dem Zweck unterworfen, diesen Mangel zu kompensieren. N. bewertet
diese lebenserhaltende Qualität der Begriffe freilich positiv, vgl. JGB 11: „es ist
endlich an der Zeit, die Kantische Frage ,wie sind synthetische Urtheile a priori
möglich?' durch eine andre Frage zu ersetzen ,warum ist der Glaube an solche
Urtheile nöthig?' - nämlich zu begreifen, dass zum Zweck der Erhaltung
von Wesen unsrer Art solche Urtheile als wahr geglaubt werden müssen;
weshalb sie natürlich noch falsche Urtheile sein könnten!" (JGB 11, KSA 5,
25, 27-34)
885, 31-33 Strenge und Unverbrüchlichkeit der Zeit- und Raum-Vorstellungen.
Diese aber produciren wir in uns und aus uns mit jener Nothwendigkeit, mit der
die Spinne spinnt;] Unsere Welterkenntnis vollzieht sich für N. in unseren
zweckmäßig produzierten Begriffen (vgl. NK 882, 27-29). In seinem Hand-
exemplar der Vermischten Schriften von Lichtenberg 1867, Bd. 1, 107, finden sich
an folgender Stelle Lesespuren: „Wir müssen glauben, daß Alles eine Ursache
habe, so wie die Spinne ihr Netz spinnt, um Fliegen zu fangen. Sie thut dieses,
ehe sie weiß, daß es Fliegen in der Welt gibt" (vgl. KGW III 5/2, 1489).
886, 14 Metaphern.] WL 1 endet, der Reinschrift Gersdorffs folgend, mit dem
Wort „Metaphern". In N.s Vorentwurf (Rs, vgl. Abb. 6) schließen nahtlos fol-
gende Zeilen an: „Der Raum ohne Inhalt, die Zeit ohne Inhalt sind jederzeit
1/4, 62[18], 555). Es zeigt sich: „Das Dasein ist mit Wundern durchlöchert"
(KGW 1/4, 62[18], 555). Diese Brüche vermögen Staunen und „Misstrauen gegen
den Idealismus" (885, 29) zu erregen.
885, 23-27 Also verweisen alle diese Relationen immer nur wieder auf einander
und sind uns ihrem Wesen nach unverständlich durch und durch; nur das, was
wir hinzubringen, die Zeit, der Raum, also Successionsverhältnisse und Zahlen
sind uns wirklich daran bekannt.] N. übt implizite Kritik am kategorieilen Sche-
ma der transzendentalen Logik Kants, das die Möglichkeitsbedingungen von
Erkenntnis festschreibt. Indem N. in WL die Sprache nicht nur als Ausdrucks-
medium der Logik thematisiert, sondern auch als prälogische Voraussetzung
jeder Art von epistemologischer Operation, sucht er die Logik als rein anthro-
pomorphen Begriff zu enttarnen: „Die Logik ist nur die Sklaverei in den Ban-
den der Sprache. Diese aber hat ein unlogisches Element in sich, die Metapher
usw." (NL 1873, KSA 7, 29[8], 625, 23-25). Folglich sind ihm Kants Kategorien
samt ihren Begriffen, das sind vor allem „Zeit Raum und Kausalität [...] nur
Erkenntnißmetaphern, mit denen wir die Dinge uns deuten" (NL 1872/73,
KSA 7, 19[210], 484, 8-9). Für N. sind Kants a priori geltende Kategorien aber
nicht nur anthropomorphe Kategorienkonstrukte, er zeigt auch die Implikatio-
nen dieser Begriffe auf, die über ihren ontologischen Gehalt hinwegtäuschen.
Da sie letztlich in einem physischen Defizit des Menschen wurzeln, sind sie
eben dem Zweck unterworfen, diesen Mangel zu kompensieren. N. bewertet
diese lebenserhaltende Qualität der Begriffe freilich positiv, vgl. JGB 11: „es ist
endlich an der Zeit, die Kantische Frage ,wie sind synthetische Urtheile a priori
möglich?' durch eine andre Frage zu ersetzen ,warum ist der Glaube an solche
Urtheile nöthig?' - nämlich zu begreifen, dass zum Zweck der Erhaltung
von Wesen unsrer Art solche Urtheile als wahr geglaubt werden müssen;
weshalb sie natürlich noch falsche Urtheile sein könnten!" (JGB 11, KSA 5,
25, 27-34)
885, 31-33 Strenge und Unverbrüchlichkeit der Zeit- und Raum-Vorstellungen.
Diese aber produciren wir in uns und aus uns mit jener Nothwendigkeit, mit der
die Spinne spinnt;] Unsere Welterkenntnis vollzieht sich für N. in unseren
zweckmäßig produzierten Begriffen (vgl. NK 882, 27-29). In seinem Hand-
exemplar der Vermischten Schriften von Lichtenberg 1867, Bd. 1, 107, finden sich
an folgender Stelle Lesespuren: „Wir müssen glauben, daß Alles eine Ursache
habe, so wie die Spinne ihr Netz spinnt, um Fliegen zu fangen. Sie thut dieses,
ehe sie weiß, daß es Fliegen in der Welt gibt" (vgl. KGW III 5/2, 1489).
886, 14 Metaphern.] WL 1 endet, der Reinschrift Gersdorffs folgend, mit dem
Wort „Metaphern". In N.s Vorentwurf (Rs, vgl. Abb. 6) schließen nahtlos fol-
gende Zeilen an: „Der Raum ohne Inhalt, die Zeit ohne Inhalt sind jederzeit