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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0036
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Überblickskommentar, Kapitel III.3: Selbstaussagen Nietzsches 9

ten verantwortlich, die seines Erachtens durch ihre sprachlichen Defizite, ihren
flachen Kulturoptimismus und die Nobilitierung des Zeitgeistes maßgeblichen
Einfluss auf die öffentliche Meinung nehmen (KSA 1, 159-162, 222-223). Vor
dem Hintergrund dieser kritischen Kulturdiagnose wird die Perspektive auf die
Zukunftschancen einer vitalen Jugend, von der N. die Überwindung der histori-
schen ,Krankheit' und einer bloß epigonalen Mentalität erhofft, für ihn zum
eigentlichen Fokus (KSA 1, 322-331). Ausgehend von seinen eigenen „unzeitge-
mässen Erfahrungen" als Altphilologe, möchte N. in diesem Sinne „gegen die
Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zu Gunsten einer kommenden
Zeit [...] wirken" (KSA 1, 247, 5-11). Dieses programmatische Bekenntnis am
Ende des Vorworts zu UB II HL bestimmt auch den gedanklichen Duktus der
übrigen Unzeitgemässen Betrachtungen. Durch vielfältige thematische Vernet-
zungen sind diese vier Schriften miteinander verbunden. Durchgehend spielt
in ihnen die Synthese von kulturkritischen Zeitdiagnosen und zukunftsorien-
tierten Postulaten eine besondere Rolle, und zwar vor dem Hintergrund von
N.s eigenem Anspruch auf Unzeitgemäßheit, der bereits in der Schlusspassage
von UB I DS deutlich hervortritt (vgl. KSA 1, 241-242). Thematische Kontinuitä-
ten reichen zudem über die Unzeitgemässen Betrachtungen hinaus bis in N.s
Spätwerk Götzen-Dämmerung. Dort führt ein Kapitel mit dem charakteristi-
schen Titel „Streifzüge eines Unzeitgemässen" (KSA 6, 111-153) die kritischen
Zeitdiagnosen der Frühwerke weiter.

111.3 Selbstaussagen Nietzsches
Das Spektrum von N.s späteren Retrospektiven auf UB III SE reicht von dank-
barer Anerkennung Schopenhauers über nachträgliche Ambivalenzen bis zu
entschiedener Abgrenzung, die vom Bedürfnis nach einer geistigen Emanzipa-
tion von seinem früheren ,Erzieher' motiviert ist. In auffallendem Maße domi-
niert dabei ein Gestus, der auf Abkehr und strategische Umdeutung zielt. -
Eine Ausnahme bildet diesbezüglich der Rückblick auf UB III SE in der Vorrede
zu Menschliches, Allzumenschliches II, die N. selbst auf „September 1886" da-
tiert (KSA 2, 377, 11). Hier erklärt er: „Als ich sodann, in der dritten Unzeitge-
mässen Betrachtung, meine Ehrfurcht vor meinem ersten und einzigen Erzie-
her, vor dem grossen Arthur Schopenhauer zum Ausdruck brachte - ich
würde sie jetzt noch viel stärker, auch persönlicher ausdrücken - war ich für
meine eigne Person schon mitten in der moralistischen Skepsis und Auflösung
drin, das heisst ebenso sehr in der Kritik als der Vertiefung
alles bisherigen Pessimismus -, und glaubte bereits ,an gar nichts
mehr', wie das Volk sagt, auch an Schopenhauer nicht" (KSA 2, 370, 8-17).
 
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