Überblickskommentar, Kapitel III.3: Selbstaussagen Nietzsches 13
Diese abstrakte Analyse der Entstehungsvoraussetzungen eines spezifi-
schen Ressentiments, das in seiner Radikalität als genaue Inversion des frühe-
ren Enthusiasmus erscheint, lässt sich konkret auf N.s eigene Abkehr von
Schopenhauer und Wagner beziehen und impliziert insofern eine kritische
Selbstdiagnose zweier eigener früherer Entwicklungsphasen. Aus nachträgli-
cher Distanz zu beiden emotionalen Extremismen diagnostiziert N. exzentri-
sche Gefühlsdispositionen dieser Art gleichermaßen als Symptome jugend-
licher Unreife und fehlender Differenzierungsfähigkeit: „Man verehrt und
verachtet in jungen Jahren noch ohne jene Kunst der Nuance, welche den bes-
ten Gewinn des Lebens ausmacht" (KSA 5, 49, 14-16). Zwar ist von UB III SE
und UB IV WB hier nicht explizit die Rede; die impliziten Bezüge sind aller-
dings an markanten, bis zu wörtlichen Übereinstimmungen reichenden Korres-
pondenzen mit dem Nachlass-Notat „Neue unzeitgemäße Betrach-
tung" zu erkennen (NL 1885, 41 [2], KSA 11, 669). Hier schwächt N. seine
generelle kritische Diagnose eines jugendlichen Subjektivismus allerdings er-
heblich ab, sobald er auf sich selbst zu sprechen kommt; zugleich tritt eine
Tendenz zur Selbststilisierung hervor (NL 1885, 41 [2], KSA 11, 670-671):
„Was ich selber einstmals, in meinen jungen Jahren', über Schopenhauer und Richard
Wagner schrieb und weniger schrieb als malte — vielleicht in einem allzuverwegenen
übermüthigen überjugendlichen al fresco — das will ich am wenigsten heute auf ,wahr'
und ,falsch' hin ins Einzelne prüfen. Gesetzt aber, ich hätte mich damals geirrt: mein
Irrthum gereicht zum Mindesten weder den Genannten, noch mir selber zur Unehre! Es
ist etwas, sich so zu irren; es ist auch etwas, gerade mich dergestalt zum Irrthum zu
verführen. Auch war es mir in jedem Falle eine unschätzbare Wohlthat, damals als ich
,den Philosophen' und ,den Künstler' und gleichsam meinen eigenen ,kategorischen Im-
perativ' zu malen beschloß, meine neuen Farben nicht ganz in's Unwirkliche hinein, son-
dern gleichsam auf vorgezeichnete Gestalten aufmalen zu können. Ohne daß ich es wuß-
te, sprach ich nur für mich, ja im Grunde nur von mir. Indessen: Alles, was ich damals
erlebt habe, das sind für eine gewisse Art von Menschen typische Erlebnisse, welchen zu
einem Ausdruck zu verhelfen -Und wer mit einer jungen und feurigen Seele jene
Schriften liest, wird vielleicht die schweren Gelöbnisse errathen, mit denen ich damals
mich für mein Leben band, - mit denen ich mich zu meinem Leben entschloß: möchte
er Einer jener Wenigen sein, die sich zu einem gleichen Leben und zu gleichen Gelöbnis-
sen entschließen - dürfen!"
Ein ähnlicher Gestus bestimmt die Retrospektive in einem Nachlass-Notat mit
dem Titel „Vorrede" aus demselben Jahr 1885: „Es liegt mir heute wenig da-
ran, ob ich in Bezug auf R<ichard> W<agner> und Schopenhauer Recht oder
Unrecht gehabt habe: habe ich mich geirrt, nun, mein Irrthum gereicht weder
den Genannten, noch mir selber zur Unehre. Gewiß ist, daß es mir, in jenen
jungen Tagen, eine ungeheure Wohlthat war, meine idealistischen Farben, in
welchen ich die Bilder <des> Philosophen und <des> Künstlers schaute, nicht
Diese abstrakte Analyse der Entstehungsvoraussetzungen eines spezifi-
schen Ressentiments, das in seiner Radikalität als genaue Inversion des frühe-
ren Enthusiasmus erscheint, lässt sich konkret auf N.s eigene Abkehr von
Schopenhauer und Wagner beziehen und impliziert insofern eine kritische
Selbstdiagnose zweier eigener früherer Entwicklungsphasen. Aus nachträgli-
cher Distanz zu beiden emotionalen Extremismen diagnostiziert N. exzentri-
sche Gefühlsdispositionen dieser Art gleichermaßen als Symptome jugend-
licher Unreife und fehlender Differenzierungsfähigkeit: „Man verehrt und
verachtet in jungen Jahren noch ohne jene Kunst der Nuance, welche den bes-
ten Gewinn des Lebens ausmacht" (KSA 5, 49, 14-16). Zwar ist von UB III SE
und UB IV WB hier nicht explizit die Rede; die impliziten Bezüge sind aller-
dings an markanten, bis zu wörtlichen Übereinstimmungen reichenden Korres-
pondenzen mit dem Nachlass-Notat „Neue unzeitgemäße Betrach-
tung" zu erkennen (NL 1885, 41 [2], KSA 11, 669). Hier schwächt N. seine
generelle kritische Diagnose eines jugendlichen Subjektivismus allerdings er-
heblich ab, sobald er auf sich selbst zu sprechen kommt; zugleich tritt eine
Tendenz zur Selbststilisierung hervor (NL 1885, 41 [2], KSA 11, 670-671):
„Was ich selber einstmals, in meinen jungen Jahren', über Schopenhauer und Richard
Wagner schrieb und weniger schrieb als malte — vielleicht in einem allzuverwegenen
übermüthigen überjugendlichen al fresco — das will ich am wenigsten heute auf ,wahr'
und ,falsch' hin ins Einzelne prüfen. Gesetzt aber, ich hätte mich damals geirrt: mein
Irrthum gereicht zum Mindesten weder den Genannten, noch mir selber zur Unehre! Es
ist etwas, sich so zu irren; es ist auch etwas, gerade mich dergestalt zum Irrthum zu
verführen. Auch war es mir in jedem Falle eine unschätzbare Wohlthat, damals als ich
,den Philosophen' und ,den Künstler' und gleichsam meinen eigenen ,kategorischen Im-
perativ' zu malen beschloß, meine neuen Farben nicht ganz in's Unwirkliche hinein, son-
dern gleichsam auf vorgezeichnete Gestalten aufmalen zu können. Ohne daß ich es wuß-
te, sprach ich nur für mich, ja im Grunde nur von mir. Indessen: Alles, was ich damals
erlebt habe, das sind für eine gewisse Art von Menschen typische Erlebnisse, welchen zu
einem Ausdruck zu verhelfen -Und wer mit einer jungen und feurigen Seele jene
Schriften liest, wird vielleicht die schweren Gelöbnisse errathen, mit denen ich damals
mich für mein Leben band, - mit denen ich mich zu meinem Leben entschloß: möchte
er Einer jener Wenigen sein, die sich zu einem gleichen Leben und zu gleichen Gelöbnis-
sen entschließen - dürfen!"
Ein ähnlicher Gestus bestimmt die Retrospektive in einem Nachlass-Notat mit
dem Titel „Vorrede" aus demselben Jahr 1885: „Es liegt mir heute wenig da-
ran, ob ich in Bezug auf R<ichard> W<agner> und Schopenhauer Recht oder
Unrecht gehabt habe: habe ich mich geirrt, nun, mein Irrthum gereicht weder
den Genannten, noch mir selber zur Unehre. Gewiß ist, daß es mir, in jenen
jungen Tagen, eine ungeheure Wohlthat war, meine idealistischen Farben, in
welchen ich die Bilder <des> Philosophen und <des> Künstlers schaute, nicht