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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0041
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14 Schopenhauer als Erzieher

ganz ins Unwirkliche, sondern gleichsam auf vorgezeichnete Gestalten aufma-
len zu können; und wenn man mir den Vorwurf gemacht hat, daß ich die Ge-
nannten mit einem vergrößernden Auge gesehen habe, so freue ich mich
dieses Vorwurfs - und meiner Augen noch dazu" (NL 1885, 35 [48], KSA 11,
534). Anschließend relativiert N. den Wahrheitsanspruch als Wertungskriteri-
um: „Was ich damals geschrieben - und weniger geschrieben als gemalt
habe, noch dazu hitzig und [...] in einem nicht unbedenklichen und verwege-
nen Alfresco: das würde dadurch noch nicht wahrer werden, daß ich es nun-
mehr, wo vielleicht Hand und Auge etwas hinzugelernt haben, noch einmal
zarter, lautrer und strenger darstellte. Jedes Lebensalter versteht ,Wahrheit' auf
seine eigene Weise; und wer mit jungen und brausenden Sinnen und großen
Ansprüchen vor jene Gemälde tritt, wird an ihnen so viel Wahrheit finden, als
er zu sehn im Stande ist" (NL 1885, 35 [48], KSA 11, 534-535).
In dieser nachträglichen Reflexion über UB III SE und UB IV WB bringt N.
das Prinzip des Perspektivischen zur Geltung. Zugleich verbindet er es mit
einer Erkenntnis von produktionsästhetischer und rezeptionsästhetischer Rele-
vanz: Zwar relativiert er frühere Einschätzungen durch seine nachträgliche
Einsicht in die Wirksamkeit eines altersspezifischen Enthusiasmus, aber ohne
damit auch dessen Eigenwert zu negieren. Denn N. schreibt der Fähigkeit zu
idealisierender Vergrößerung eine Bedeutung zu, die nicht vom jeweiligen Rea-
litätsgehalt abhängt. Indem er seine beiden früheren Schriften hier als „Gemäl-
de" charakterisiert, die auf idealistischen Visionen basieren, rückt er sie in die
Nähe künstlerischer Produktivität und entwertet zugleich das Kriterium der
Objektivität in der Darstellung. In einem anderen Notat deklariert N. UB III SE
und UB IV WB nachträglich sogar als Mittel zu Zwecken jenseits von Zeitkritik
und Kulturdiagnose: „Meine vier ersten U<nzeitgemäßen> B<etrachtungen> [...]
waren Versuche, die Art Menschen an mich heranzulocken, welche zu mir ge-
hören: also Angelruthen, ausgeworfen nach ,Meines-Gleichen'. Damals war ich
jung genug, um mit ungeduldiger Hoffnung auf solchen Fischfang zu gehen"
(NL 1885, 35 [48], KSA 11, 535). Die Verve kulturreformatorischer Intentionen
angesichts zeitgenössischer Krisensymptome, die in UB I DS und UB II HL be-
sonders ausgeprägt erscheint, aber auch UB III SE und UB IV WB grundiert,
tritt hier hinter einer subjektiven Motivation zurück.
Im oben beschriebenen Sinne lässt sich auch ein etwas früher entstande-
nes Nachlass-Notat von 1884 verstehen, in dem sich N. mit selbstironischem
Unterton als „Maler" bezeichnet, der „einmal ein Bild von Richard Wagner ge-
malt" hat, nämlich UB IV WB; dann fährt er fort: „Einige Jahre später sagte ich
mir: ,Teufel! es ist gar nicht ähnlich'. Noch ein paar Jahre später antwortete ich
,um so besser! um so besser!' - In gewissen Jahren des Lebens hat man ein
Recht, Dinge und Menschen falsch zu sehen, - Vergrößerungsgläser, welche
 
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