Überblickskommentar, Kapitel III.3: Selbstaussagen Nietzsches 19
überhaupt scheint es mir nicht so wichtig zu sein, wie man es jetzt nimmt,
dass bei irgend einem Philosophen genau ergründet und an's Licht gebracht
werde, was er eigentlich im strengsten Wortverstande gelehrt habe, was nicht:
eine solche Erkenntniss ist wenigstens nicht für Menschen geeignet, welche
eine Philosophie für ihr Leben, nicht eine neue Gelehrsamkeit für ihr Gedächt-
niss suchen: und zuletzt bleibt es mir unwahrscheinlich, dass so etwas wirklich
ergründet werden kann" (NL 1874, 34 [13], KSA 7, 795-796).
Diese Textpassage ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich: Zum einen
betont N. die persönliche Strategie zur Selbstfindung durch Orientierung an
einem philosophischen Vorbild, relativiert dabei aber zugleich die Relevanz
philosophischer „Gelehrsamkeit". Zum anderen artikuliert er seine methodisch
begründete Skepsis, dem eigentlichen Inhalt philosophischer Lehren über-
haupt auf die Spur kommen zu können. Ähnlich wie die „Philosophen Grie-
chenlands" (350, 29) spricht auch N. dem existentiellen Bezug besondere Be-
deutung zu, der in der Vorbildfunktion des authentischen Beispiels liegt. Und
wichtiger als die gelehrten Inhalte ist ihm ein lebensnahes Philosophieren. Die-
se Priorität korrespondiert mit Grundtendenzen in UB III SE, wo N. das 3. Kapi-
tel mit dem Diktum eröffnet: „Ich mache mir aus einem Philosophen gerade so
viel als er im Stande ist ein Beispiel zu geben" (350, 23-24). In diesem Sinne
konstatiert N. im August 1884 in einem Brief an Franz Overbeck: „Übrigens
habe ich so gelebt, wie ich es mir selber (namentlich in ,Schopenhauer als
Erzieher') vorgezeichnet habe"; im Hinblick auf diese Schrift lässt er dann die
parenthetische Aussage folgen: „(ihr Fehler ist, daß eigentlich in ihr nicht
von Schopenhauer, sondern fast nur von mir die Rede ist - aber das wußte ich
selber nicht, als ich sie machte.)" (KSB 6, Nr. 524, S. 518).
In der Fröhlichen Wissenschaft (FW 99) reflektiert N. über die „Anhänger
Schopenhauer's" (KSA 3, 453, 22) und deren Präferenzen bei der Rezeption
seiner Philosophie: Laut N. orientieren sie sich an den besonders leicht nach-
zuahmenden „Ausschweifungen und Laster[n] des Philosophen" (KSA 3,
454, 32). Damit meint er ausdrücklich nicht Schopenhauers an der Empirie
geschulten „Thatsachen-Sinn", seine intellektuelle Redlichkeit, seine Reserve
gegenüber dem christlichen Theismus und seine Überzeugung „von der Intel-
lectualität der Anschauung, von der Apriorität des Causalitätsgesetzes, von der
Werkzeug-Natur des Intellects und der Unfreiheit des Willens" (KSA 3, 453,
26 - 454, 6), sondern seine „unbeweisbare Lehre von Einem Willen", seine
„Leugnung des Individuums", seine Apotheose des Genies und den
„Unsinn vom Mitleide [...] als der Quelle aller Moralität", die sich nach N.s
Auffassung in der Schopenhauer-Rezeption als besonders wirkungsmächtige
Philosopheme erwiesen haben (KSA 3, 454, 11-27). N. selbst hingegen artiku-
liert seine Skepsis, indem er diese Vorstellungen als „die mystischen Verlegen-
überhaupt scheint es mir nicht so wichtig zu sein, wie man es jetzt nimmt,
dass bei irgend einem Philosophen genau ergründet und an's Licht gebracht
werde, was er eigentlich im strengsten Wortverstande gelehrt habe, was nicht:
eine solche Erkenntniss ist wenigstens nicht für Menschen geeignet, welche
eine Philosophie für ihr Leben, nicht eine neue Gelehrsamkeit für ihr Gedächt-
niss suchen: und zuletzt bleibt es mir unwahrscheinlich, dass so etwas wirklich
ergründet werden kann" (NL 1874, 34 [13], KSA 7, 795-796).
Diese Textpassage ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich: Zum einen
betont N. die persönliche Strategie zur Selbstfindung durch Orientierung an
einem philosophischen Vorbild, relativiert dabei aber zugleich die Relevanz
philosophischer „Gelehrsamkeit". Zum anderen artikuliert er seine methodisch
begründete Skepsis, dem eigentlichen Inhalt philosophischer Lehren über-
haupt auf die Spur kommen zu können. Ähnlich wie die „Philosophen Grie-
chenlands" (350, 29) spricht auch N. dem existentiellen Bezug besondere Be-
deutung zu, der in der Vorbildfunktion des authentischen Beispiels liegt. Und
wichtiger als die gelehrten Inhalte ist ihm ein lebensnahes Philosophieren. Die-
se Priorität korrespondiert mit Grundtendenzen in UB III SE, wo N. das 3. Kapi-
tel mit dem Diktum eröffnet: „Ich mache mir aus einem Philosophen gerade so
viel als er im Stande ist ein Beispiel zu geben" (350, 23-24). In diesem Sinne
konstatiert N. im August 1884 in einem Brief an Franz Overbeck: „Übrigens
habe ich so gelebt, wie ich es mir selber (namentlich in ,Schopenhauer als
Erzieher') vorgezeichnet habe"; im Hinblick auf diese Schrift lässt er dann die
parenthetische Aussage folgen: „(ihr Fehler ist, daß eigentlich in ihr nicht
von Schopenhauer, sondern fast nur von mir die Rede ist - aber das wußte ich
selber nicht, als ich sie machte.)" (KSB 6, Nr. 524, S. 518).
In der Fröhlichen Wissenschaft (FW 99) reflektiert N. über die „Anhänger
Schopenhauer's" (KSA 3, 453, 22) und deren Präferenzen bei der Rezeption
seiner Philosophie: Laut N. orientieren sie sich an den besonders leicht nach-
zuahmenden „Ausschweifungen und Laster[n] des Philosophen" (KSA 3,
454, 32). Damit meint er ausdrücklich nicht Schopenhauers an der Empirie
geschulten „Thatsachen-Sinn", seine intellektuelle Redlichkeit, seine Reserve
gegenüber dem christlichen Theismus und seine Überzeugung „von der Intel-
lectualität der Anschauung, von der Apriorität des Causalitätsgesetzes, von der
Werkzeug-Natur des Intellects und der Unfreiheit des Willens" (KSA 3, 453,
26 - 454, 6), sondern seine „unbeweisbare Lehre von Einem Willen", seine
„Leugnung des Individuums", seine Apotheose des Genies und den
„Unsinn vom Mitleide [...] als der Quelle aller Moralität", die sich nach N.s
Auffassung in der Schopenhauer-Rezeption als besonders wirkungsmächtige
Philosopheme erwiesen haben (KSA 3, 454, 11-27). N. selbst hingegen artiku-
liert seine Skepsis, indem er diese Vorstellungen als „die mystischen Verlegen-