Überblickskommentar, Kapitel III.6: Rezeption 45
Menschheit soll fortwährend daran arbeiten, einzelne grosse Menschen zu er-
zeugen - und dies und nichts Anderes sonst ist ihre Aufgabe" (383, 32 - 384,
2). Die Zukunftsperspektiven, die Brandes in seinem N.-Buch entfaltet, entspre-
chen sehr weitgehend dieser Programmatik N.s. So erblickt Brandes die künfti-
ge Aufgabe der „hervorragenden Geister" darin, „eine Kaste hervorragender
Geistesaristokraten zu züchten und zu erziehen, die die Macht in Zentraleuropa
und damit überall ergreifen können. [...] Der große Mann ist nicht das Kind
seiner Zeit, sondern ihr Stifter. Was wir von dem Erzieher, den wir suchen,
lernen müssen, ist uns selbst gegen die Zeit und den Zeitgeist zu erziehen. [...]
Wann herrscht Kulturzustand? Wenn die Menschheit in einer Gesellschaft im-
mer weiter daran arbeitet, einzelne große Menschen zu erzeugen. Es gibt kei-
nen höheren Zweck" (Brandes 1888, nach der Transkription der Vorlesung
übersetzt von Benne 2012, 414). Dann vermittelt Brandes den geistesaristokrati-
schen Individualismus mit gesellschaftlichen Belangen, indem er den Vorteil
für die Majorität betont: „In der Steigerung der Kultur wird die Persönlichkeit
indirekt auch am meisten für das Wohl der Vielen getan haben, am meisten
nämlich dafür, dass ihr Leben wertvoller wird" (ebd., 414). Hier scheint er -
anders als N. - den elitären Individualismus mit Prinzipien eines hedonisti-
schen Utilitarismus (etwa im Sinne von Jeremy Bentham oder John Stuart Mill)
versöhnen zu wollen, indem er die positiven Folgen eines praktizierten Geistes-
aristokratismus für „das Wohl der Vielen" betont (ebd., 414). Allerdings voll-
zieht Brandes in der vierten seiner N.-Vorlesungen eine Abkehr von sozialutili-
taristischen Maximen zugunsten der Machtprinzipien von Führerfiguren: So
verbindet er die Prognose „Cäsars Zeit wird kommen" mit der Vorstellung „der
höchsten Machtfülle" (ebd., 414).
Unter Rückgriff auf die Vorlesungen publizierte Georg Brandes sein N.-
Buch 1889 zunächst auf Dänisch; die deutsche Übersetzung trägt den Titel
Friedrich Nietzsche. Eine Abhandlung über aristokratischen Radikalismus. Schon
1887 hatte N. ihm seine Schriften Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie
der Moral zugesandt (vgl. Brandes 2004, 112). Nachdem Brandes ihm brieflich
einen ,aristokratischen Radikalismus' bescheinigt hatte, antwortete N. am
2. Dezember 1887 enthusiastisch auf dieses Diktum: Den Begriff „aristokrati-
scher Radikalismus" bezeichnete er als „das gescheuteste Wort, das ich bisher
über mich gelesen habe" (KSB 8, Nr. 960, S. 206). Vgl. auch NK 375, 30-31.
Henning Ottmann stellt zustimmend fest: „Nietzsches Ideale sind stets ,aristo-
kratische' gewesen, und man kann mit Brandes Nietzsches ganze Philosophie
einen ,aristokratischen Radikalismus' nennen. Immer hat Nietzsche ,elitistisch'
gedacht, gegen den demokratischen Geist der Zeit" (Ottmann 1999, 271). Zu
begrifflichen Differenzierungen und zur Wirkungsgeschichte des ,aristokrati-
schen Radikalismus' (auch im Kontext der Avantgarde-Konzepte seit dem Fin
Menschheit soll fortwährend daran arbeiten, einzelne grosse Menschen zu er-
zeugen - und dies und nichts Anderes sonst ist ihre Aufgabe" (383, 32 - 384,
2). Die Zukunftsperspektiven, die Brandes in seinem N.-Buch entfaltet, entspre-
chen sehr weitgehend dieser Programmatik N.s. So erblickt Brandes die künfti-
ge Aufgabe der „hervorragenden Geister" darin, „eine Kaste hervorragender
Geistesaristokraten zu züchten und zu erziehen, die die Macht in Zentraleuropa
und damit überall ergreifen können. [...] Der große Mann ist nicht das Kind
seiner Zeit, sondern ihr Stifter. Was wir von dem Erzieher, den wir suchen,
lernen müssen, ist uns selbst gegen die Zeit und den Zeitgeist zu erziehen. [...]
Wann herrscht Kulturzustand? Wenn die Menschheit in einer Gesellschaft im-
mer weiter daran arbeitet, einzelne große Menschen zu erzeugen. Es gibt kei-
nen höheren Zweck" (Brandes 1888, nach der Transkription der Vorlesung
übersetzt von Benne 2012, 414). Dann vermittelt Brandes den geistesaristokrati-
schen Individualismus mit gesellschaftlichen Belangen, indem er den Vorteil
für die Majorität betont: „In der Steigerung der Kultur wird die Persönlichkeit
indirekt auch am meisten für das Wohl der Vielen getan haben, am meisten
nämlich dafür, dass ihr Leben wertvoller wird" (ebd., 414). Hier scheint er -
anders als N. - den elitären Individualismus mit Prinzipien eines hedonisti-
schen Utilitarismus (etwa im Sinne von Jeremy Bentham oder John Stuart Mill)
versöhnen zu wollen, indem er die positiven Folgen eines praktizierten Geistes-
aristokratismus für „das Wohl der Vielen" betont (ebd., 414). Allerdings voll-
zieht Brandes in der vierten seiner N.-Vorlesungen eine Abkehr von sozialutili-
taristischen Maximen zugunsten der Machtprinzipien von Führerfiguren: So
verbindet er die Prognose „Cäsars Zeit wird kommen" mit der Vorstellung „der
höchsten Machtfülle" (ebd., 414).
Unter Rückgriff auf die Vorlesungen publizierte Georg Brandes sein N.-
Buch 1889 zunächst auf Dänisch; die deutsche Übersetzung trägt den Titel
Friedrich Nietzsche. Eine Abhandlung über aristokratischen Radikalismus. Schon
1887 hatte N. ihm seine Schriften Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie
der Moral zugesandt (vgl. Brandes 2004, 112). Nachdem Brandes ihm brieflich
einen ,aristokratischen Radikalismus' bescheinigt hatte, antwortete N. am
2. Dezember 1887 enthusiastisch auf dieses Diktum: Den Begriff „aristokrati-
scher Radikalismus" bezeichnete er als „das gescheuteste Wort, das ich bisher
über mich gelesen habe" (KSB 8, Nr. 960, S. 206). Vgl. auch NK 375, 30-31.
Henning Ottmann stellt zustimmend fest: „Nietzsches Ideale sind stets ,aristo-
kratische' gewesen, und man kann mit Brandes Nietzsches ganze Philosophie
einen ,aristokratischen Radikalismus' nennen. Immer hat Nietzsche ,elitistisch'
gedacht, gegen den demokratischen Geist der Zeit" (Ottmann 1999, 271). Zu
begrifflichen Differenzierungen und zur Wirkungsgeschichte des ,aristokrati-
schen Radikalismus' (auch im Kontext der Avantgarde-Konzepte seit dem Fin