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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0074
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Überblickskommentar, Kapitel III.6: Rezeption 47

greift (vgl. Simmel 1907, 2. Aufl. 1920, 227-229) und wenn er N.s Ansicht, „daß
es Höhepunkte der Menschheit gibt" (ebd., 218), durch den Hinweis auf die
„Nietzschesche Pointierung der einzelnen Höhenerscheinungen der Mensch-
heit" ergänzt (ebd., 220). An diese Metaphorik N.s schließt Simmel auch dort
an, wo er „Aufgipfelungen des Lebens" (ebd., 221) und „Aufgipfelungen über
andere sich steigernden Lebens" zum Thema macht (ebd., 229). Dabei gerät
zugleich N.s Feststellung in den Fokus, „das Ziel der Menschheit kann nicht
am Ende liegen, sondern nur in ihren höchsten Exemplaren" (KSA 1, 317, 24-
26 - vgl. dazu NK 317, 22-26), die N. in UB III SE aufgreift und weiterführt (vgl.
383, 32 - 384, 2 sowie NK 378, 22-24 und NK 382, 4-9).
Auf N.s Geistesaristokratismus reagiert Simmel insgesamt ambivalent. Ei-
nerseits erklärt er, „daß die Nietzschesche Verlegung des Wertakzents der
Menschheit auf ihre höchsten Exemplare als Werttheorie keineswegs etwas Un-
erhörtes ist", sondern „der leidenschaftlichste Ausdruck für das Sichemporstre-
cken der Menschheit, für den Fanatismus der Entwicklungshöhe, der gegen die
Bedeutung der Breite, in der die Entwicklung stattfindet, völlig blind macht"
(Simmel 1907, 2. Aufl. 1920, 227). Laut Simmel basiert der antidemokratische
Geistesaristokratismus N.s auf der Prämisse, dass die „demokratische Bestre-
bung, die Distanz zwischen der tiefsten und der höchsten Schicht der Persön-
lichkeiten zu verringern", allein „durch eine Entwicklungshemmung der letzte-
ren möglich" werde (ebd., 227). Aus dieser Korrelation erklärt sich Simmel auch
den Nachdruck, mit dem N. seinen elitären Individualismus als Stimulans kul-
turellen Fortschritts propagiert. Gemäß UB II HL kann die ,monumentalische
Historie' laut N. einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, sofern sie das Poten-
tial „zur Erzeugung des Grossen" fördert (KSA 1, 317, 23).
Georg Simmel nimmt den geistesaristokratischen Individualismus N.s sei-
nerseits zum Ausgangspunkt für eine „kulturpsychologische" Interpretation: In
der Divergenz von mediokrer Masse und Geistesheros bei N., die sich vor
UB III SE auch schon in UB II HL ausprägt, erblickt er ein radikales Gegenmodell
„zum Sozialismus" (Simmel 1907, 2. Aufl. 1920, 220). In UB III SE manifestiert
sich ein solches Spannungsfeld in der teleologischen Perspektive N.s, die „Auf-
gabe" der Menschheit liege ausschließlich darin, „einzelne grosse Menschen zu
erzeugen", weil es in der gesamten Natur „allein auf das einzelne höhere Exem-
plar ankommt", nicht auf die „Masse der Exemplare" (384, 1-12). Diese durch
N.s Geistesaristokratismus bedingte Tendenz zur Polarisierung führt Simmel auf
eine „Steigerung des psychologischen Unterschiedsbedürfnisses" zurück (Sim-
mel 1907, 2. Aufl. 1920, 218). Denn angesichts einer „Abstumpfung" des Empfin-
dens durch Folgen „der modernen Individualisierung" müsse man zu „immer
gewalttätigeren Unterschiedsreizen greifen", um „sein eigenes Leben fühlen" zu
können, und tendiere aus diesem Grund zu Extremen (ebd., 220).
 
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