50 Schopenhauer als Erzieher
stalt-typen des Menschen sind nicht alle gleich oder ungleich unserer Hervorru-
fung (Züchtung, Erziehung) fähig. Der Heilige und der Genius sind es weniger
als der Held [...]. Der Heilige [...] kann nicht gezüchtet, nicht erzogen werden.
Er ist der ,Erzieher der Erzieher'. Der Genius ist nicht züchtbar, da bei ihm die
Erbgesetze versagen. Wo[h]l aber ist er [...] erziehbar: Seine Talente müssen mit
s[einem] Genie in Verbindung gebracht werden und er - als der Verletzlichste,
der wenigst ,angepaßte' Mensch - bedarf eines außerordentl[ichen], auf s[ein]
Wesen abgestimmten Milieus, um sich auszuwirken" (B.I.21, 133-135). Hier
zeichnen sich mehrere Analogien zu UB III SE ab, und zwar zu der schon im
Titel von Schopenhauer als Erzieher hervortretenden pädagogischen Leitvorstel-
lung, zu N.s Reflexionen über den Typus „Heiliger" und „Genius" (358, 6) sowie
zu den Voraussetzungen für die „Erzeugung des Genius" (358, 12).
Weitere Affinitäten zwischen Scheler und N. betreffen die Lebensrisiken
unkonventioneller Genies wie Schopenhauer (vgl. das 3. Kapitel in UB III SE)
und die Auffassung, dass „wir Alle durch Schopenhauer uns gegen unsre Zeit
erziehen können" (363, 25-26). Mit Schelers Perspektive auf den Heldentypus
korrespondiert ein „heroischer Lebenslauf" (373, 15), wie N. ihn im Anschluss
an Schopenhauer imaginiert. Im Scheler-Nachlass findet sich auch in Doku-
ment „B.II.66: Notizbuch, 61 (1927/28)" zur „Zukunft des Menschen" die pro-
grammatische Vorstellung von „Bildung der Elite" bzw. „Erziehung, Zucht der
Eliten" im Hinblick auf „Staat" und „Kulturgebiete" (B.II.66). Seine Bezugnah-
me auf N. macht Scheler hier explizit: „Posit[ive] Zielsetzung: N[ietzsche] for-
dert eine neue heroische aristokratische Kultur auf dem Boden der Diesseitigkeit"
(B.I.189, 108). Dass Scheler hier außer den „Unzeitg[emäßen] Betr[achtungen]"
auch bereits Also sprach Zarathustra im Visier hat, zeigt sein anschließendes Zitat
(vgl. KSA 4, 15, 1-3).
Trotz dieser positiven Wertungen formuliert Scheler nur zwei Seiten später
allerdings ein kritisches Pauschalurteil über N.s CEuvre insgesamt: Nachdem
er zunächst die „Größte Bed[eutung] N[ietzsches]" im Bereich der Moralkritik
und der Infragestellung von Christentum, Demokratie und Sozialismus betont
hat, notiert er: „Posit[iv] hat er nichts Dauerf[ähiges], Best[immtes] geg[eben].
Kein klass[ischer] Philosoph wie Platon, Kant. Er ist abh[ängig] von allen Im-
pressionen], die ihn berühren. Polem[isch] entf[altet] sich s[ein] Denken. Eine
große Seele, k[ein] großer Denker" (B.I.189, 109). Dieses radikale Verdikt über
N.s Denkweise offenbart, wie sehr Schelers Urteilsmaßstäbe im Jahr 1920 noch
von traditionelleren Formen des Philosophierens präformiert waren. [Die
Aufzeichnungen Schelers zu „Nietzsche 1844-1900" im Nachlass-Dokument
B.I.189, 106-109 am Ende seiner Vorlesung „Geschichte der Philosophie im
19. Jahrhundert" wurden (mit einigen Lesefehlern) bereits publiziert in: Sche-
ler: Gesammelte Werke, Bd. 15, 1997, 138-140.]
stalt-typen des Menschen sind nicht alle gleich oder ungleich unserer Hervorru-
fung (Züchtung, Erziehung) fähig. Der Heilige und der Genius sind es weniger
als der Held [...]. Der Heilige [...] kann nicht gezüchtet, nicht erzogen werden.
Er ist der ,Erzieher der Erzieher'. Der Genius ist nicht züchtbar, da bei ihm die
Erbgesetze versagen. Wo[h]l aber ist er [...] erziehbar: Seine Talente müssen mit
s[einem] Genie in Verbindung gebracht werden und er - als der Verletzlichste,
der wenigst ,angepaßte' Mensch - bedarf eines außerordentl[ichen], auf s[ein]
Wesen abgestimmten Milieus, um sich auszuwirken" (B.I.21, 133-135). Hier
zeichnen sich mehrere Analogien zu UB III SE ab, und zwar zu der schon im
Titel von Schopenhauer als Erzieher hervortretenden pädagogischen Leitvorstel-
lung, zu N.s Reflexionen über den Typus „Heiliger" und „Genius" (358, 6) sowie
zu den Voraussetzungen für die „Erzeugung des Genius" (358, 12).
Weitere Affinitäten zwischen Scheler und N. betreffen die Lebensrisiken
unkonventioneller Genies wie Schopenhauer (vgl. das 3. Kapitel in UB III SE)
und die Auffassung, dass „wir Alle durch Schopenhauer uns gegen unsre Zeit
erziehen können" (363, 25-26). Mit Schelers Perspektive auf den Heldentypus
korrespondiert ein „heroischer Lebenslauf" (373, 15), wie N. ihn im Anschluss
an Schopenhauer imaginiert. Im Scheler-Nachlass findet sich auch in Doku-
ment „B.II.66: Notizbuch, 61 (1927/28)" zur „Zukunft des Menschen" die pro-
grammatische Vorstellung von „Bildung der Elite" bzw. „Erziehung, Zucht der
Eliten" im Hinblick auf „Staat" und „Kulturgebiete" (B.II.66). Seine Bezugnah-
me auf N. macht Scheler hier explizit: „Posit[ive] Zielsetzung: N[ietzsche] for-
dert eine neue heroische aristokratische Kultur auf dem Boden der Diesseitigkeit"
(B.I.189, 108). Dass Scheler hier außer den „Unzeitg[emäßen] Betr[achtungen]"
auch bereits Also sprach Zarathustra im Visier hat, zeigt sein anschließendes Zitat
(vgl. KSA 4, 15, 1-3).
Trotz dieser positiven Wertungen formuliert Scheler nur zwei Seiten später
allerdings ein kritisches Pauschalurteil über N.s CEuvre insgesamt: Nachdem
er zunächst die „Größte Bed[eutung] N[ietzsches]" im Bereich der Moralkritik
und der Infragestellung von Christentum, Demokratie und Sozialismus betont
hat, notiert er: „Posit[iv] hat er nichts Dauerf[ähiges], Best[immtes] geg[eben].
Kein klass[ischer] Philosoph wie Platon, Kant. Er ist abh[ängig] von allen Im-
pressionen], die ihn berühren. Polem[isch] entf[altet] sich s[ein] Denken. Eine
große Seele, k[ein] großer Denker" (B.I.189, 109). Dieses radikale Verdikt über
N.s Denkweise offenbart, wie sehr Schelers Urteilsmaßstäbe im Jahr 1920 noch
von traditionelleren Formen des Philosophierens präformiert waren. [Die
Aufzeichnungen Schelers zu „Nietzsche 1844-1900" im Nachlass-Dokument
B.I.189, 106-109 am Ende seiner Vorlesung „Geschichte der Philosophie im
19. Jahrhundert" wurden (mit einigen Lesefehlern) bereits publiziert in: Sche-
ler: Gesammelte Werke, Bd. 15, 1997, 138-140.]