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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0078
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Überblickskommentar, Kapitel III.6: Rezeption 51

Obwohl er in dieser Vorlesungsnotiz von 1920 einen gravierenden Vorbe-
halt gegenüber N.s Philosophie äußert, war das philosophische Selbstverständ-
nis Schelers, der sich auch als heroischer Dionysiker verstand, nachhaltig von
N. geprägt. In den Aufzeichnungen, mit denen Scheler seinen Vortrag zur Feier
von N.s Geburtstag im Oktober 1927 vorbereiten wollte, hat er den kritischen
Impuls dann längst wieder revidiert. Im Nachlass-Dokument „B.I.25: Diverses
zur Anthropologie, 19-20 (1927)" würdigt Scheler in der fragmentarischen
„[Einleitung des Nietzsche-Vortrags]" die „Größe" und die „unermeßlich" er-
scheinende „Fülle" der „Gedanken über das Leben des Menschen [...], die sich
in Fr. Nietzsche zum Teil zuerst manifestirten und die er zum Teil selbst gestal-
tend hervor rief" (B.I.25, 19-20). Und nachdem Scheler N. als „einzigartigen
Wort- und Sprachpräger", als „erhabenen Dichterphilosophen" sowie als „un-
erhört spürsinnigen" Psychologen exponiert hat, der „nicht einfach Philosoph
war im klassischen Sinne", betont er die „Einheit eines großen Problems", das
N. existentiell durchdacht habe und aus dem „all seine Geschichtserk[enntnis],
all seine Psychologie, all seine Kritik der Kulturformen" hervorgegangen sei
(B.I.25). Der unkonventionelle philosophische Gestus N.s, den Scheler 1920
noch als Defizit betrachtet hatte, avanciert nun zum Fundament seiner Singu-
larität. Wenige Monate vor Schelers Tod dokumentieren diese Vortragsnotizen
den letzten Stand seiner N.-Rezeption.
Martin Havenstein bezeichnet UB III SE in seinem Buch Nietzsche als Er-
zieher sogar superlativisch als „die schönste der ,Unzeitgemäßen Betrachtun-
gen"' und begründet seine Einschätzung folgendermaßen: Diese Schrift „ist -
in der Tiefe betrachtet - ,Nietzsche als Erzieher'. [...] Daß er sich aber dabei,
ohne es zu wissen, hinter Schopenhauer verbarg, hat noch einen anderen, tie-
feren Grund" als den, dass N. aus „Bescheidenheit" die „frühe Eigenart und
Selbständigkeit seines Geistes" verkannte und seine Wunschbilder daher in
„Schopenhauer und Wagner" projizierte (Havenstein 1922, 7-8). Havenstein
übernimmt für seinen Buchtitel N.s nachträgliche Umdeutung von UB III SE in
Ecce homo: Dort behauptet N., dass in UB III SE „im Grunde nicht ,Schopen-
hauer als Erzieher', sondern sein Gegensatz, ,Nietzsche als Erzieher', zu
Worte kommt" (KSA 6, 320, 29-31). - Diese späte Selbstinterpretation N.s adap-
tiert Havenstein in seiner Feststellung: In Schopenhauer als Erzieher „redet
Nietzsche nicht nur von sich selber, sondern er redet im Grunde auch nur,
oder doch ganz vornehmlich, zu sich selber. Auch das wurde ihm später klar.
,Mihi ipsi scripsi', sagt er selbst. ,Schopenhauer als Erzieher' ist ein großartiges
Selbstgespräch, wie es in der gesamten Literatur schwerlich seinesgleichen
hat. Es redet darin eine hohe, einsame Seele, die den Weg, den zu gehen sie
sich berufen und getrieben fühlt, als einen Leidensweg erkennt und sich nun
selber mahnt und Mut macht, ihn zu gehen. Eine Tat und ein Zeugnis der
 
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