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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0083
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56 Schopenhauer als Erzieher

mündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes
ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Un-
mündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, son-
dern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines
andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstan-
des zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. Faulheit und Feig-
heit sind die Ursachen, warum ein so großer Theil der Menschen, nachdem sie
die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen [...] dennoch gern zeitle-
bens unmündig bleiben" (AA 8, 35).
Cosima Wagner freilich erklärt N. am 26. Oktober 1874 in ihrem ansonsten
ganz enthusiastischen Brief über UB III SE: „Eine einzige Bezeichnung hätte
ich anders gewünscht, ich hätte Trägheit lieber als Faulheit gelesen, weil ich
mit Faulheit den Begriff der Verwesung [...] nicht den der Schwerfälligkeit ver-
binde" (KGB II 4, Nr. 599, S. 594).
337, 5-7 Manchen wird es dünken, er hätte richtiger und gültiger gesagt: sie
sind alle furchtsam. Sie verstecken sich unter Sitten und Meinungen.] Indem N.
Feigheit und Bequemlichkeit des Menschen als anthropologische Konstanten
darstellt, beschreibt er sie zugleich als Hindernisse für die Entfaltung jener
geistigen Selbständigkeit, die Kant in seiner berühmten Schrift Was ist Aufklä-
rung? postuliert. Zum programmatischen Kampf Kants gegen die Unmündigkeit
vgl. die in NK 337, 1-5 zitierte Textpassage aus Kants Schrift. Die Abgrenzung
gegenüber bloßen Meinungen verbindet N. im Anschluss an Schopenhauer mit
dem Postulat geistiger Autonomie und innerer Unabhängigkeit (vgl. 338, 10-
19), also mit dem Anspruch auf ein Leben „nach eignem Maass und Gesetz"
(339, 15). In einer späteren Textpassage kritisiert N. „das Wühlen in zahllosen
fremden und verkehrten Meinungen" (416, 32). Zudem reflektiert er in UB III SE
auch über „die geplagten Sklaven der drei M, des Moments, der Meinungen
und der Moden" (392, 10-11). Vgl. dazu NK 392, 9-11. Mit seiner Kritik an den
„verkehrten Meinungen" orientiert sich N. an ähnlichen Formulierungen in
Schopenhauers Aphorismen zur Lebensweisheit: Dort wird „der Sklave fremder
Meinung und fremden Bedünkens" zum Thema (PP I, Hü 376). Schopenhauer
empfiehlt auch, „sich klar zu machen, wie ganz falsch, verkehrt, irrig und ab-
surd die meisten Meinungen in den Köpfen der Menschen zu seyn pflegen,
daher sie, an sich selbst, keiner Beachtung werth sind" (PP I, Hü 381).
337, 7-11 Im Grunde weiss jeder Mensch recht wohl, dass er nur einmal, als ein
Unicum, auf der Welt ist und dass kein noch so seltsamer Zufall zum zweiten Mal
ein so wunderlich buntes Mancherlei zum Einerlei, wie er es ist, zusammenschüt-
teln wird] Mit „Unicum" ist ein Phänomen gemeint, das nur in einem einzigen
Exemplar existiert. - Laut KSA 14, 74 spielt N. hier auf Lagarde an. Vgl. dazu
 
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