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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0085
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58 Schopenhauer als Erzieher

wie später auch N. vertritt bereits Schopenhauer einen prononcierten Geistes-
aristokratismus: „Hat ein Mal die Natur in günstigster Laune das seltenste ihrer
Erzeugnisse, einen wirklich über das gewöhnliche Maaß hinaus begabten
Geist, aus ihren Händen hervorgehn lassen [...], - da dauert es nicht lange, so
kommen die Leute mit einem Erdenkloß ihres Gelichters herangeschleppt, um
ihn daneben auf den Altar zu stellen; eben weil sie nicht begreifen [...], wie
aristokratisch die Natur ist: sie ist es so sehr, daß auf 300 Millionen
ihrer Fabrikwaare noch nicht Ein wahrhaft großer Geist kommt" (PP I, Hü 189).
Und in der Welt als Wille und Vorstellung II erklärt Schopenhauer: „Eigentliche
Bildung, bei welcher Erkenntniß und Urtheil Hand in Hand gehn, kann nur
Wenigen zugewandt werden, und noch Wenigere sind fähig sie aufzunehmen.
Für den großen Haufen tritt überall an ihre Stelle eine Art Abrichtung"
(WWV II, Kap. 6, Hü 74).
In UB III SE beruft sich N. zweimal sogar explizit auf Schopenhauers
Schrift Ueber die Universitäts-Philosophie (413, 418). Zu den zahlreichen impli-
ziten Bezugnahmen N.s auf diese Schrift vgl. die Nachweise in Kapitel III.4 des
Überblickskommentars. - Zuvor nimmt N. bereits in UB I DS Anstoß daran,
dass sich David Friedrich Strauß „zum kecken Vertheidiger des Genies und
überhaupt der aristokratischen Natur des Geistes aufwirft" (KSA 1, 199, 23-25).
Und in einem Nachlass-Notat aus der Entstehungszeit von UB I DS attestiert er
Strauß: „Sein ,Aristokratismus der Natur' ist ganz inconsequent und ange-
schwindelt" (NL 1873, 27 [23], KSA 7, 593). Wenn N. in UB I DS „dem Philister
das Genie" gegenüberstellt (KSA 1, 199, 20), dann greift er auf eine bereits seit
der Epoche des Sturm und Drang in der Kulturgeschichte etablierte Opposition
zurück. Bereits im zweiten seiner nachgelassenen Vorträge Ueber die Zukunft
unserer Bildungsanstalten kritisiert N. 1872 die „lauten Herolde des Bildungsbe-
dürfnisses", die er selbst - entgegen ihrer Programmatik - für „eifrige, ja fana-
tische Gegner der wahren Bildung" hält, weil diese seines Erachtens „an der
aristokratischen Natur des Geistes festhält: denn im Grunde meinen sie, als ihr
Ziel, die Emancipation der Massen von der Herrschaft der großen Einzelnen,
im Grunde streben sie darnach, die heiligste Ordnung im Reiche des Intellektes
umzustürzen, die Dienstbarkeit der Masse, ihren unterwürfigen Gehorsam, ih-
ren Instinkt der Treue unter dem Scepter des Genies" (KSA 1, 698, 8-17). Zur
Fabrik- und Sklaven-Metaphorik bei Schopenhauer und N. vgl. auch NK 202,
24-28.
338, 11 sei du selbst!] Der hier imperativisch formulierte Anspruch auf Authen-
tizität kehrt in UB III SE an späterer Stelle wieder: in der Vorstellung, die Größe
des unzeitgemäßen Menschen bestehe darin, „frei und ganz er selbst zu sein"
(362, 17-18). In den Aphorismen zur Lebensweisheit (5.B.9), Schopenhauers po-
pulärstem Werk, heißt es: „Ganz er selbst seyn darf Jeder nur so lange er
 
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