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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0090
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Stellenkommentar UB III SE 1, KSA 1, S. 340-341 63

als seinen eigenen „Erzieher und Bildner" exponiert (KSA 1, 341, 22) und des-
sen besonderer Qualität als seines „Lehrers und Zuchtmeisters [...] eingedenk
sein" will (341, 23-24). Im vorliegenden Kontext schließt N. an Grundtendenzen
und Konzepte verschiedener Autoren der Literatur- und Kulturgeschichte an.
Affinitäten ergeben sich etwa zu Hölderlins Briefroman Hyperion: durch die
Funktion, die der Erzieher Adamas dort für den jugendlichen Protagonisten
hat. Hölderlin seinerseits orientiert sich in dieser Hinsicht an Jean-Jacques
Rousseaus Buch Emile ou De l'education, das großen Einfluss auf neuzeitliche
Erziehungstheorien hatte, weil es auf eine Überwindung traditioneller Erzie-
hungsmethoden und auf eine freie Entfaltung des Kindes zielt. Vgl. dazu aus-
führlich NK 369, 18-25, daneben auch NK 341, 13-15 und NK 369, 28-30. Durch
den Einfluss der Erzieher soll das Individuum nicht heteronom überformt, son-
dern zur Autonomie seines eigenen Wesens befreit werden, das N. als prinzipi-
ell unerziehbare Essenz versteht. Wenig später charakterisiert er das Individu-
um so: „Ein Jeder trägt eine productive Einzigkeit in sich, als den Kern seines
Wesens" (359, 20-21). Die unaufhebbare individuelle Prägung betont schon N.s
Lieblingsphilosoph Heraklit: vgl. Frg. 22 B 119 (Diels/Kranz). - In der deutschen
Literatur ist Goethes Altersgedicht Urworte. Orphisch ein repräsentatives Zeug-
nis dieser Vorstellung.
N. greift im vorliegenden Kontext auf anthropologische Prämissen zurück,
die auch Schopenhauer in seiner Schrift Ueber die Universitäts-Philosophie for-
muliert: Seines Erachtens wird der „Erziehung und Bildung" (PP I, Hü 209) zu
Unrecht oft ein höherer Stellenwert für die Entstehung ,echter' Philosophen
zugesprochen als den genetischen Faktoren. Demgegenüber hält Schopenhau-
er selbst die durch Vererbung „angeborenen Talente" für prioritär (PP I,
Hü 209), teilt also Prämissen, die bereits Kants Definition des Genies in der
Kritik der Urtheilskraft bestimmen (vgl. § 46): „Genie ist die angeborne Gemüths-
anlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel giebt" (AA 5,
307). - Zwar richtet N. sein kulturkritisches Interesse generell auf historische
Entwicklungsprozesse: So propagiert er in UB III SE eine sukzessive Entfaltung
des Individuums durch Erziehung und Bildung (341-343) und legt im Hinblick
auf die kulturelle Entwicklung (380-387, 402) Wert auf eine Konstellation, in
der das „Ideal [...] uns erzieht, während es uns aufwärts zieht" (376, 7-19). Aber
seine These, „der wahre Ursinn und Grundstoff" des Individuums sei „etwas
durchaus Unerziehbares und Unbildbares" (341, 3-4), korrespondiert mit Scho-
penhauers anthropologischen Grundsätzen. Schopenhauer betont zwar den
Primat der Naturanlage (vgl. PP I, Hü 209), spricht zugleich aber der Lektüre
„der selbsteigenen Werke wirklicher Philosophen" (PP I, Hü 208) eine wesent-
liche Funktion zu. Vgl. NK 341, 22-24. - Zum Bildungskonzept N.s allgemein
vgl. Christian Niemeyer 2002.
 
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