Stellenkommentar UB III SE 1, KSA 1, S. 341 65
geborenen Talente" (PP I, Hü 209) trägt N. Rechnung, indem er bei der Betrach-
tung der idealen Entstehungsbedingungen für ,echte' Philosophen einen Blick
auf Schopenhauers Eltern wirft (408-409). - Implizit steht hier auch bereits
Rousseaus Naturkonzept im Hintergrund, das N. später im Vergleich mit den
anthropologischen Vorstellungen Goethes und Schopenhauers expliziert (369-
371). In seinem pädagogischen Buch Emile ou De l'education (Emile oder über
die Erziehung) von 1762 plädiert Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) für eine
natürliche Erziehung, welche die freie Entfaltung der kindlichen Persönlichkeit
intendiert. Durch detaillierte Anweisungen will er die geistige und körperliche
Entwicklung gleichermaßen fördern. In einer idealen Lehrer-Schüler-Bezie-
hung kann der Lehrer nach Rousseaus Überzeugung zur Entwicklung der kind-
lichen Individualität auf der Basis von Natur und Empfindung beitragen, in-
dem er die ,guten' Fähigkeiten des Kindes behutsam lenkt und wachsen lässt.
Zu Rousseaus Lehren und zu N.s Vorbehalten gegen ihn vgl. NK 369, 18-25 und
NK 369, 28-30.
341, 22-24 so will ich denn heute des einen Lehrers und Zuchtmeisters, dessen
ich mich zu rühmen habe, eingedenk sein, Arthur Schopenhauer's] Obwohl
Schopenhauer schon in der Anfangspassage von UB III SE implizit als Vorbild-
figur präsent ist (z. B. als „der grosse Denker": 338, 5-7), retardiert N. die Nen-
nung des Namens bis zum Ende des 1. Kapitels. Erst hier exponiert er Schopen-
hauer in markanter Schlussstellung und mit rhetorischer Emphase (vgl. auch
KSA 1, 778-782, 808 und einen Brief N.s vom 13. Dezember 1875 in KSB 5,
Nr. 495, S. 129). Dem existentiellen Pathos dieser Inszenierung steht die nach-
trägliche Umdeutung diametral gegenüber, die N. aufgrund seiner späteren
Abwendung von Schopenhauer in Ecce homo vornimmt. Vgl. dazu N.s Selbst-
aussagen zu den Unzeitgemässen Betrachtungen insgesamt: KSA 6, 316-321, da-
rin konkret über UB III SE und UB IV WB: KSA 6, 319-321. Während N. Scho-
penhauer in UB III SE 1874 emphatisch als den lange ersehnten „Erzieher"
preist (350, 15) und ihn sogar als seinen ,Zuchtmeister' apostrophiert (341, 23),
der auf geradezu idealtypische Weise den ,echten' Philosophen repräsentiere,
ändert sich seine Perspektive nach der Abkehr vom eigenen Schüler-Status
fundamental: So behauptet N. 1888 in Ecce homo rückblickend, in UB III SE
komme „im Grunde nicht ,Schopenhauer als Erzieher', sondern sein Gegen-
satz, ,Nietzsche als Erzieher', zu Worte" (KSA 6, 320, 29-31). „Die Schrift ,Wag-
ner in Bayreuth' ist eine Vision meiner Zukunft; dagegen ist in ,Schopenhauer
als Erzieher' meine innerste Geschichte, mein Werden eingeschrieben. Vor
Allem mein Gelöbniss!..." (KSA 6, 320, 9-12), also eine Antizipation der eige-
nen künftigen Entwicklung.
Schopenhauer selbst insistiert in seiner Schrift Ueber die Universitäts-Philo-
sophie auf dem Primat der Naturbegabung vor der Sozialisation und erklärt,
geborenen Talente" (PP I, Hü 209) trägt N. Rechnung, indem er bei der Betrach-
tung der idealen Entstehungsbedingungen für ,echte' Philosophen einen Blick
auf Schopenhauers Eltern wirft (408-409). - Implizit steht hier auch bereits
Rousseaus Naturkonzept im Hintergrund, das N. später im Vergleich mit den
anthropologischen Vorstellungen Goethes und Schopenhauers expliziert (369-
371). In seinem pädagogischen Buch Emile ou De l'education (Emile oder über
die Erziehung) von 1762 plädiert Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) für eine
natürliche Erziehung, welche die freie Entfaltung der kindlichen Persönlichkeit
intendiert. Durch detaillierte Anweisungen will er die geistige und körperliche
Entwicklung gleichermaßen fördern. In einer idealen Lehrer-Schüler-Bezie-
hung kann der Lehrer nach Rousseaus Überzeugung zur Entwicklung der kind-
lichen Individualität auf der Basis von Natur und Empfindung beitragen, in-
dem er die ,guten' Fähigkeiten des Kindes behutsam lenkt und wachsen lässt.
Zu Rousseaus Lehren und zu N.s Vorbehalten gegen ihn vgl. NK 369, 18-25 und
NK 369, 28-30.
341, 22-24 so will ich denn heute des einen Lehrers und Zuchtmeisters, dessen
ich mich zu rühmen habe, eingedenk sein, Arthur Schopenhauer's] Obwohl
Schopenhauer schon in der Anfangspassage von UB III SE implizit als Vorbild-
figur präsent ist (z. B. als „der grosse Denker": 338, 5-7), retardiert N. die Nen-
nung des Namens bis zum Ende des 1. Kapitels. Erst hier exponiert er Schopen-
hauer in markanter Schlussstellung und mit rhetorischer Emphase (vgl. auch
KSA 1, 778-782, 808 und einen Brief N.s vom 13. Dezember 1875 in KSB 5,
Nr. 495, S. 129). Dem existentiellen Pathos dieser Inszenierung steht die nach-
trägliche Umdeutung diametral gegenüber, die N. aufgrund seiner späteren
Abwendung von Schopenhauer in Ecce homo vornimmt. Vgl. dazu N.s Selbst-
aussagen zu den Unzeitgemässen Betrachtungen insgesamt: KSA 6, 316-321, da-
rin konkret über UB III SE und UB IV WB: KSA 6, 319-321. Während N. Scho-
penhauer in UB III SE 1874 emphatisch als den lange ersehnten „Erzieher"
preist (350, 15) und ihn sogar als seinen ,Zuchtmeister' apostrophiert (341, 23),
der auf geradezu idealtypische Weise den ,echten' Philosophen repräsentiere,
ändert sich seine Perspektive nach der Abkehr vom eigenen Schüler-Status
fundamental: So behauptet N. 1888 in Ecce homo rückblickend, in UB III SE
komme „im Grunde nicht ,Schopenhauer als Erzieher', sondern sein Gegen-
satz, ,Nietzsche als Erzieher', zu Worte" (KSA 6, 320, 29-31). „Die Schrift ,Wag-
ner in Bayreuth' ist eine Vision meiner Zukunft; dagegen ist in ,Schopenhauer
als Erzieher' meine innerste Geschichte, mein Werden eingeschrieben. Vor
Allem mein Gelöbniss!..." (KSA 6, 320, 9-12), also eine Antizipation der eige-
nen künftigen Entwicklung.
Schopenhauer selbst insistiert in seiner Schrift Ueber die Universitäts-Philo-
sophie auf dem Primat der Naturbegabung vor der Sozialisation und erklärt,