68 Schopenhauer als Erzieher
gewogenes Verhältnis zueinander bringe. - Die Affinität von N.s Konzepten mit
Prämissen Herders, gegen den er gleichwohl heftig polemisierte, erscheint als
Ausdruck einer „Wahlverwandtschaft wider Willen" (vgl. dazu v. Rahden 2007,
473-477).
N.s intensive Beschäftigung mit den ästhetischen Schriften Schillers, die
vor allem in seiner frühen Schaffensphase auffällt, manifestierte sich bereits
in der Geburt der Tragödie und später auch in Menschliches, Allzumenschliches
II. (Zur zentralen Bedeutung von N.s Schiller-Rezeption und zu seiner späteren
Abkehr von ihm, die in der Götzen-Dämmerung sogar in Polemik gegen den
angeblichen „Moral-Trompeter von Säckingen" Ausdruck fand (KSA 6, 111, 5-
6), vgl. Venturelli 2003). - Schiller reflektiert die Problematik einseitiger Ent-
wicklung vor allem in seiner Schrift Über die ästhetische Erziehung des Men-
schen in einer Reihe von Briefen. Vgl. hier insbesondere den Sechsten Brief, in
dem Schiller die immer weiter fortschreitende Spezialisierung kulturgeschicht-
lich begründet und sowohl Vorteile als auch Nachteile hervorhebt: Ähnlich wie
N. betont bereits Schiller den „Kontrast [...] zwischen der heutigen Form der
Menschheit" und der „ehemaligen, besonders der griechischen" (Schiller: FA,
Bd. 8, 570). Er betrachtet es als Charakteristikum der Moderne, dass „nicht
bloß einzelne Subjekte sondern ganze Klassen von Menschen nur einen Teil
ihrer Anlagen entfalten, während daß die übrigen, wie bei verkrüppelten Ge-
wächsen, kaum mit matter Spur angedeutet sind" (ebd., 571): „Ewig nur an ein
einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch
selbst nur als Bruchstück aus" (ebd., 572-573); so „entwickelt er nie die Harmo-
nie seines Wesens" (ebd., 573).
Aber „so wenig es auch den Individuen bei dieser Zerstückelung ihres We-
sens wohl werden kann": „die Gattung [hätte] auf keine andere Art [...] Fort-
schritte machen können" (ebd., 575). „Die mannigfaltigen Anlagen im Men-
schen zu entwickeln, war kein anderes Mittel, als sie einander entgegen zu
setzen. Dieser Antagonism der Kräfte ist das große Instrument der Kultur, aber
auch nur das Instrument; denn solange derselbe dauert, ist man erst auf dem
Wege zu dieser" (ebd., 576). „Einseitigkeit in Übung der Kräfte führt zwar das
Individuum unausbleiblich zum Irrtum, aber die Gattung zur Wahrheit. Da-
durch allein, daß wir die ganze Energie unsers Geistes in Einem Brennpunkt
versammeln, und unser ganzes Wesen in eine einzige Kraft zusammenziehen,
setzen wir dieser einzelnen Kraft gleichsam Flügel an, und führen sie künstli-
cherweise weit über die Schranken hinaus, welche die Natur ihr gesetzt zu
haben scheint" (ebd., 576). „Wieviel also auch für das Ganze der Welt durch
diese getrennte Ausbildung der menschlichen Kräfte gewonnen werden mag,
so ist nicht zu leugnen, daß die Individuen, welche sie trifft, unter dem Fluch
dieses Weltzweckes leiden. Durch gymnastische Übungen bilden sich zwar ath-
gewogenes Verhältnis zueinander bringe. - Die Affinität von N.s Konzepten mit
Prämissen Herders, gegen den er gleichwohl heftig polemisierte, erscheint als
Ausdruck einer „Wahlverwandtschaft wider Willen" (vgl. dazu v. Rahden 2007,
473-477).
N.s intensive Beschäftigung mit den ästhetischen Schriften Schillers, die
vor allem in seiner frühen Schaffensphase auffällt, manifestierte sich bereits
in der Geburt der Tragödie und später auch in Menschliches, Allzumenschliches
II. (Zur zentralen Bedeutung von N.s Schiller-Rezeption und zu seiner späteren
Abkehr von ihm, die in der Götzen-Dämmerung sogar in Polemik gegen den
angeblichen „Moral-Trompeter von Säckingen" Ausdruck fand (KSA 6, 111, 5-
6), vgl. Venturelli 2003). - Schiller reflektiert die Problematik einseitiger Ent-
wicklung vor allem in seiner Schrift Über die ästhetische Erziehung des Men-
schen in einer Reihe von Briefen. Vgl. hier insbesondere den Sechsten Brief, in
dem Schiller die immer weiter fortschreitende Spezialisierung kulturgeschicht-
lich begründet und sowohl Vorteile als auch Nachteile hervorhebt: Ähnlich wie
N. betont bereits Schiller den „Kontrast [...] zwischen der heutigen Form der
Menschheit" und der „ehemaligen, besonders der griechischen" (Schiller: FA,
Bd. 8, 570). Er betrachtet es als Charakteristikum der Moderne, dass „nicht
bloß einzelne Subjekte sondern ganze Klassen von Menschen nur einen Teil
ihrer Anlagen entfalten, während daß die übrigen, wie bei verkrüppelten Ge-
wächsen, kaum mit matter Spur angedeutet sind" (ebd., 571): „Ewig nur an ein
einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch
selbst nur als Bruchstück aus" (ebd., 572-573); so „entwickelt er nie die Harmo-
nie seines Wesens" (ebd., 573).
Aber „so wenig es auch den Individuen bei dieser Zerstückelung ihres We-
sens wohl werden kann": „die Gattung [hätte] auf keine andere Art [...] Fort-
schritte machen können" (ebd., 575). „Die mannigfaltigen Anlagen im Men-
schen zu entwickeln, war kein anderes Mittel, als sie einander entgegen zu
setzen. Dieser Antagonism der Kräfte ist das große Instrument der Kultur, aber
auch nur das Instrument; denn solange derselbe dauert, ist man erst auf dem
Wege zu dieser" (ebd., 576). „Einseitigkeit in Übung der Kräfte führt zwar das
Individuum unausbleiblich zum Irrtum, aber die Gattung zur Wahrheit. Da-
durch allein, daß wir die ganze Energie unsers Geistes in Einem Brennpunkt
versammeln, und unser ganzes Wesen in eine einzige Kraft zusammenziehen,
setzen wir dieser einzelnen Kraft gleichsam Flügel an, und führen sie künstli-
cherweise weit über die Schranken hinaus, welche die Natur ihr gesetzt zu
haben scheint" (ebd., 576). „Wieviel also auch für das Ganze der Welt durch
diese getrennte Ausbildung der menschlichen Kräfte gewonnen werden mag,
so ist nicht zu leugnen, daß die Individuen, welche sie trifft, unter dem Fluch
dieses Weltzweckes leiden. Durch gymnastische Übungen bilden sich zwar ath-