Stellenkommentar UB III SE 2, KSA 1, S. 342 69
letische Körper aus, aber nur durch das freie und gleichförmige Spiel der Glie-
der die Schönheit. Eben so kann die Anspannung einzelner Geisteskräfte zwar
außerordentliche, aber nur die gleichförmige Temperatur derselben glückliche
und vollkommene Menschen erzeugen" (ebd., 577).
Aus diesen Erwägungen zu den Vor- und Nachteilen der Spezialisierung
des Menschen im Laufe des Zivilisationsprozesses zieht Schiller die folgende
Quintessenz: „Es muß also falsch sein, daß die Ausbildung der einzelnen Kräf-
te das Opfer ihrer Totalität notwendig macht; oder wenn auch das Gesetz der
Natur noch so sehr dahin strebte, so muß es bei uns stehen, diese Totalität in
unsrer Natur, welche die Kunst zerstört hat, durch eine höhere Kunst wieder
herzustellen" (ebd., 578). - Das Ideal, das Schiller im Siebzehnten Brief seiner
Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen formuliert, zielt darauf,
„den Menschen zu einem in sich selbst vollendeten Ganzen" zu machen (ebd.,
620). Analog dazu sieht N. „die Aufgabe" von „Erziehung" darin, Einzelbega-
bungen so zu fördern, dass „alle vorhandenen Kräfte [...] unter einander in ein
harmonisches Verhältniss" gebracht werden (342, 13-14). Zum Bildungsgedan-
ken bei N. und Schiller vgl. auch Ulrichs 2005, 111-124.
N.s Reflexion über die konträren pädagogischen Maximen, die einerseits
die einseitige Kultivierung des Spezialistentums, andererseits jedoch eine har-
monische Integration unterschiedlicher Begabungen favorisieren, weist eine
aufschlussreiche Affinität auch zu Goethes Bildungsroman Wilhelm Meisters
Lehrjahre auf, den N. in UB III SE mehrmals nennt (vgl. NK 371, 15-17 und
NK 376, 19-29). Im 5. Kapitel des 8. Buches von Wilhelm Meisters Lehrjahre,
aus dem N. auch in 371, 15-17 zitiert, berichtet Natalie über retrospektive Le-
bensbetrachtungen ihres Oheims: „Wenn ich nicht, pflegte er oft zu sagen, mir
von Jugend auf so sehr widerstanden hätte, wenn ich nicht gestrebt hätte, mei-
nen Verstand ins Weite und Allgemeine auszubilden, so wäre ich der be-
schränkteste und unerträglichste Mensch geworden, denn nichts ist unerträgli-
cher als abgeschnittene Eigenheit an demjenigen, von dem man eine reine,
gehörige Tätigkeit fordern kann" (Goethe: FA, Bd. 9, 919).
Das synthetische Konzept, das N. als eine zwischen den beiden Alternati-
ven - Spezialisierung vs. allseitige Bildung - vermittelnde Option favorisiert
(342-343), ist auch in diesem Kapitel von Goethes Roman Wilhelm Meisters
Lehrjahre bereits Gegenstand der Reflexion. So erklärt die Figur Jarno über den
Abbe: „Was ihn uns so schätzbar macht, [...] was ihm gewissermaßen die Herr-
schaft über uns alle erhält, ist der freie und scharfe Blick, den ihm die Natur
über alle Kräfte, die im Menschen nur wohnen, und wovon sich jede in ihrer
Art ausbilden läßt, gegeben hat. Die meisten Menschen, selbst die vorzügli-
chen, sind nur beschränkt, jeder schätzt gewisse Eigenschaften an sich und
andern, nur die begünstigt er, nur die will er ausgebildet wissen: Ganz entge-
letische Körper aus, aber nur durch das freie und gleichförmige Spiel der Glie-
der die Schönheit. Eben so kann die Anspannung einzelner Geisteskräfte zwar
außerordentliche, aber nur die gleichförmige Temperatur derselben glückliche
und vollkommene Menschen erzeugen" (ebd., 577).
Aus diesen Erwägungen zu den Vor- und Nachteilen der Spezialisierung
des Menschen im Laufe des Zivilisationsprozesses zieht Schiller die folgende
Quintessenz: „Es muß also falsch sein, daß die Ausbildung der einzelnen Kräf-
te das Opfer ihrer Totalität notwendig macht; oder wenn auch das Gesetz der
Natur noch so sehr dahin strebte, so muß es bei uns stehen, diese Totalität in
unsrer Natur, welche die Kunst zerstört hat, durch eine höhere Kunst wieder
herzustellen" (ebd., 578). - Das Ideal, das Schiller im Siebzehnten Brief seiner
Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen formuliert, zielt darauf,
„den Menschen zu einem in sich selbst vollendeten Ganzen" zu machen (ebd.,
620). Analog dazu sieht N. „die Aufgabe" von „Erziehung" darin, Einzelbega-
bungen so zu fördern, dass „alle vorhandenen Kräfte [...] unter einander in ein
harmonisches Verhältniss" gebracht werden (342, 13-14). Zum Bildungsgedan-
ken bei N. und Schiller vgl. auch Ulrichs 2005, 111-124.
N.s Reflexion über die konträren pädagogischen Maximen, die einerseits
die einseitige Kultivierung des Spezialistentums, andererseits jedoch eine har-
monische Integration unterschiedlicher Begabungen favorisieren, weist eine
aufschlussreiche Affinität auch zu Goethes Bildungsroman Wilhelm Meisters
Lehrjahre auf, den N. in UB III SE mehrmals nennt (vgl. NK 371, 15-17 und
NK 376, 19-29). Im 5. Kapitel des 8. Buches von Wilhelm Meisters Lehrjahre,
aus dem N. auch in 371, 15-17 zitiert, berichtet Natalie über retrospektive Le-
bensbetrachtungen ihres Oheims: „Wenn ich nicht, pflegte er oft zu sagen, mir
von Jugend auf so sehr widerstanden hätte, wenn ich nicht gestrebt hätte, mei-
nen Verstand ins Weite und Allgemeine auszubilden, so wäre ich der be-
schränkteste und unerträglichste Mensch geworden, denn nichts ist unerträgli-
cher als abgeschnittene Eigenheit an demjenigen, von dem man eine reine,
gehörige Tätigkeit fordern kann" (Goethe: FA, Bd. 9, 919).
Das synthetische Konzept, das N. als eine zwischen den beiden Alternati-
ven - Spezialisierung vs. allseitige Bildung - vermittelnde Option favorisiert
(342-343), ist auch in diesem Kapitel von Goethes Roman Wilhelm Meisters
Lehrjahre bereits Gegenstand der Reflexion. So erklärt die Figur Jarno über den
Abbe: „Was ihn uns so schätzbar macht, [...] was ihm gewissermaßen die Herr-
schaft über uns alle erhält, ist der freie und scharfe Blick, den ihm die Natur
über alle Kräfte, die im Menschen nur wohnen, und wovon sich jede in ihrer
Art ausbilden läßt, gegeben hat. Die meisten Menschen, selbst die vorzügli-
chen, sind nur beschränkt, jeder schätzt gewisse Eigenschaften an sich und
andern, nur die begünstigt er, nur die will er ausgebildet wissen: Ganz entge-