72 Schopenhauer als Erzieher
bloßen Laisser faire. N. reflektiert vor diesem Hintergrund auch die Problema-
tik der Sozialisation des Wissenschaftlers auf Kosten der Menschlichkeit und
hält eine „höhere Maxime der Erziehung" (344, 5) für unentbehrlich. Zur Mise-
re der zeitgenössischen Gelehrtengeneration vgl. Schopenhauer (PP I, Hü 177-
179) und das Kapitel III.4 im Überblickskommentar.
344, 22-23 die Wissenschaft, also ein unmenschliches Abstractum] Eine unper-
sönliche Sozialisation des einzelnen durch die Institution der Wissenschaft
hält N. für problematisch, weil sie den Gelehrten als Menschen verkümmern
lasse. Nach seiner Überzeugung ist die Gestaltung einer lebendigen Kultur al-
lein durch die Orientierung an „sittlichen Vorbilder[n]" möglich. In diesem
Kontext sieht N. Schopenhauer als paradigmatischen Erzieher.
344, 31-34 man zehrt thatsächlich an dem ererbten Capital von Sittlichkeit, wel-
ches unsre Vorfahren aufhäuften und welches wir nicht zu mehren, sondern nur
zu verschwenden verstehen] Hier erweitert N. seine kritische Kulturdiagnose,
indem er sie auf die zeitgenössische Epigonenproblematik bezieht, die seit den
1830er Jahren zum kulturkritischen Repertoire gehörte. Dabei transferiert er
den ästhetisch akzentuierten Epigonenbegriff in die ethische Sphäre. - Der
moderne, pejorativ gefärbte Begriff des Epigonen entstand am Ende der Goe-
thezeit; er bezeichnet den durch einen Mangel an Originalität gekennzeichne-
ten unschöpferischen Nachahmer, der sich eklektizistisch an ,klassischen'
Vorbildern orientiert, zugleich aber an deren Übergröße leidet. Traditionellen
Denkschemata verhaftet, gelangt der Epigone weder zu eigenständigen künst-
lerischen Ausdrucksformen noch zu einer kritisch-konstruktiven Auseinander-
setzung mit der jeweils aktuellen Zeitsituation.
Autoren wie Grillparzer, Keller, Stifter und Fontane reflektierten die Epigo-
nenproblematik in theoretischen Texten und in fiktionalen Werken (vgl. Ney-
meyr 2004). Schon Immermann hatte den Begriff des Epigonen, der auf das
altgriechische Wort ,epigonos' (enfyovoq) zurückgeht und wertneutral den Sohn
oder Nachkommen bezeichnet, aus dem genealogischen Bedeutungshorizont in
die geistig-künstlerische Sphäre übertragen. Die eigene Generation betrachtet
Karl Immermann als epigonal, weil sie sich auf eine unkreative Nachahmung
der geistigen Vorfahren in der Epoche der Klassik und Romantik beschränke.
In seinem Roman Die Epigonen (1836) lässt er eine Figur das Epigonen-Elend
folgendermaßen diagnostizieren: „Die große Bewegung im Reiche des Geistes,
welche unsre Väter [...] unternahmen, hat uns eine Menge von Schätzen zuge-
führt [...]. Aber es geht mit geborgten Ideen, wie mit geborgtem Gelde, wer mit
fremdem Gut leichtfertig wirtschaftet, wird immer ärmer" (Immermann: Werke
in fünf Bänden, Bd. 2, 1971, 121, 122). Wie N. in UB III SE betont bereits Immer-
manns Romanfigur mithilfe ökonomischer Metaphorik den Mangel an Solidität,
bloßen Laisser faire. N. reflektiert vor diesem Hintergrund auch die Problema-
tik der Sozialisation des Wissenschaftlers auf Kosten der Menschlichkeit und
hält eine „höhere Maxime der Erziehung" (344, 5) für unentbehrlich. Zur Mise-
re der zeitgenössischen Gelehrtengeneration vgl. Schopenhauer (PP I, Hü 177-
179) und das Kapitel III.4 im Überblickskommentar.
344, 22-23 die Wissenschaft, also ein unmenschliches Abstractum] Eine unper-
sönliche Sozialisation des einzelnen durch die Institution der Wissenschaft
hält N. für problematisch, weil sie den Gelehrten als Menschen verkümmern
lasse. Nach seiner Überzeugung ist die Gestaltung einer lebendigen Kultur al-
lein durch die Orientierung an „sittlichen Vorbilder[n]" möglich. In diesem
Kontext sieht N. Schopenhauer als paradigmatischen Erzieher.
344, 31-34 man zehrt thatsächlich an dem ererbten Capital von Sittlichkeit, wel-
ches unsre Vorfahren aufhäuften und welches wir nicht zu mehren, sondern nur
zu verschwenden verstehen] Hier erweitert N. seine kritische Kulturdiagnose,
indem er sie auf die zeitgenössische Epigonenproblematik bezieht, die seit den
1830er Jahren zum kulturkritischen Repertoire gehörte. Dabei transferiert er
den ästhetisch akzentuierten Epigonenbegriff in die ethische Sphäre. - Der
moderne, pejorativ gefärbte Begriff des Epigonen entstand am Ende der Goe-
thezeit; er bezeichnet den durch einen Mangel an Originalität gekennzeichne-
ten unschöpferischen Nachahmer, der sich eklektizistisch an ,klassischen'
Vorbildern orientiert, zugleich aber an deren Übergröße leidet. Traditionellen
Denkschemata verhaftet, gelangt der Epigone weder zu eigenständigen künst-
lerischen Ausdrucksformen noch zu einer kritisch-konstruktiven Auseinander-
setzung mit der jeweils aktuellen Zeitsituation.
Autoren wie Grillparzer, Keller, Stifter und Fontane reflektierten die Epigo-
nenproblematik in theoretischen Texten und in fiktionalen Werken (vgl. Ney-
meyr 2004). Schon Immermann hatte den Begriff des Epigonen, der auf das
altgriechische Wort ,epigonos' (enfyovoq) zurückgeht und wertneutral den Sohn
oder Nachkommen bezeichnet, aus dem genealogischen Bedeutungshorizont in
die geistig-künstlerische Sphäre übertragen. Die eigene Generation betrachtet
Karl Immermann als epigonal, weil sie sich auf eine unkreative Nachahmung
der geistigen Vorfahren in der Epoche der Klassik und Romantik beschränke.
In seinem Roman Die Epigonen (1836) lässt er eine Figur das Epigonen-Elend
folgendermaßen diagnostizieren: „Die große Bewegung im Reiche des Geistes,
welche unsre Väter [...] unternahmen, hat uns eine Menge von Schätzen zuge-
führt [...]. Aber es geht mit geborgten Ideen, wie mit geborgtem Gelde, wer mit
fremdem Gut leichtfertig wirtschaftet, wird immer ärmer" (Immermann: Werke
in fünf Bänden, Bd. 2, 1971, 121, 122). Wie N. in UB III SE betont bereits Immer-
manns Romanfigur mithilfe ökonomischer Metaphorik den Mangel an Solidität,