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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0101
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74 Schopenhauer als Erzieher

rie wurde ein naturalistisches Menschenbild popularisiert. Zu den Lehren
Darwins vgl. NK 194, 24-26. Zu N.s Darwin-Rezeption vgl. Stegmaier 1987, 264-
287 und Sommer 2012b, 223-240. Zum Darwinismus-Diskurs im 19. Jahrhundert
generell vgl. die umfassende Darstellung von Bayertz/Gerhard/Jaeschke, Bd. 2,
2007.
In der bildenden Kunst entwickelte sich der Naturalismus etwa ab 1850, in
der Literatur erreichte er seinen Höhepunkt hingegen erst in den 1880er und
1890er Jahren. Die naturalistischen Strömungen, die in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts zunächst insbesondere von Autoren in Frankreich, Skandina-
vien und Russland initiiert wurden (etwa von Zola und den Brüdern de Gon-
court sowie von Ibsen und Tolstoi), propagierten eine präzise Darstellung der
Wirklichkeit, vor allem die genaue literarische Gestaltung sozialer Milieus. Im
Naturalismus versuchten sich die Autoren auch in der Literatur an experimen-
tellen, induktiven Methoden der Naturwissenschaften zu orientieren, um sozi-
alpsychologische Mechanismen aufzudecken und dadurch zugleich Gesell-
schaftskritik zu üben. In der deutschen Literatur gilt dies in besonderem Maße
für die sozialen Dramen Gerhart Hauptmanns (vgl. z. B. sein Drama Vor Sonnen-
aufgang). Unter Verzicht auf jedwede metaphysische Deutung wollten die Na-
turalisten das real Gegebene mithilfe positivistischer Verfahren auf seine histo-
rischen, biologischen und soziologischen Ursachen hin analysieren. Dabei
verbanden sie ihren Anspruch auf detailgetreue Mimesis der Realität mit einem
ausgeprägten sozialkritischen Engagement.
345, 15-16 die antiken Moralsysteme und die in allen gleichmässig waltende
Natürlichkeit] N.s Formulierung lässt offen, welche Moralsysteme der Antike er
konkret im Sinn hat, wenn er christliche Ideale mit der „antiken Tugend" (345,
20) konkurrieren sieht, so dass der moderne Mensch unschlüssig, friedlos und
resignativ zwischen beiden Optionen changiert. Vor allem die von Zenon von
Kition begründete Philosophie der Stoiker, die in der Antike zu den einfluss-
reichsten Philosophenschulen zählte und eine facettenreiche Wirkungsge-
schichte bis in die Moderne aufweist, propagiert ein ,naturgemäßes Leben':
durch die Maxime ,secundum naturam vivere'. Zur stoischen Tradition und ih-
ren vielfältigen Transformationen vgl. das zweibändige Werk Stoizismus in der
europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. Eine Kulturgeschichte von
der Antike bis zur Moderne (Hg. Neymeyr/Schmidt/Zimmermann 2008a). - Als
Therapeutikum gegen die Wechselfälle des Lebens, vor allem gegen Schmerz
und Tod, empfahlen die Stoiker eine Haltung der Ataraxia, mithin der Uner-
schütterlichkeit der Seele, die der Mensch durch vernunftgeleitete Selbstbe-
herrschung erringen soll. Der Maxime eines ,naturgemäßen Lebens' entspricht
dieses Konzept aufgrund der stoischen Prämissen: Denn die Stoiker hielten
den Logos für das dynamische Ordnungsprinzip, das die gesamte Natur durch-
 
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